Nicht ohne mein Visum

Die folgende Geschichte enthält wenige Fahrradkilometer, dafür längere Busfahrten, einige bislang ungewohnte Stresssituationen und den kürzesten Georgienurlaub aller Zeiten.

8. April: in Samsun

Als wir aufwachen ist unser Gastgeber Yusuf bereits längst an der Uni, um Geschichtsstudenten zu unterrichten. Ich greife zu meinem Smartphone und wähle die Nummer einer Versicherungshotline. Nach einem 10minütigen Aufenthalt in der Warteschleife, erschließen sich mir neue Dimensionen der deutschen Dienstleistungskultur.

„Ich benötige eine englischsprachige Bestätigung meiner weltweit gültigen Auslandskrankenversicherung“

„Gerne. Für welches Land?“

„Es ist für unser iranisches Visum“

„Tut mir leid, aber für den Iran machen wir das nicht.“

„Moment mal. Unser Versicherungsschutz ist weltweit gültig. Wo liegt denn dieser Iran, wenn nicht auf dieser Welt?“.

„Warten Sie, ich frage meinen Chef.“

Wiederum 10 Minuten später. „Okay, wir können das machen, Aber nicht auf Englisch.“

 „Warum nicht, wenn ich fragen darf?“

„Es handelt sich um eine amtlich beglaubigte Vorlage, die nicht übersetzt werden darf“.“

„Ah….“

„Wir können Ihnen das gerne per Mail zusenden. So in 10 Tagen sollte es fertig sein.“

„Wie bitte???“, schreie ich entsetzt. „Die letzten beiden Mal hat das 10 Minuten gedauert.“

„Wir hatten die Osterfeiertage und haben nun einen Rückstand aufzuarbeiten. Gerade sind wir beim 30. März angekommen.“

Langsam reicht es mir. „Wir beantragen am Montag das Visum und brauchen bis dahin Ihre Bestätigung. Heute ist Mittwoch. Spätestens übermorgen möchte ich das in meiner Mailbox sehen.“

„Es tut mir leid, aber….“

„Ich tue Ihnen leid? Dann helfen Sie mir bitte.“

„Bis übermorgen wird das nicht gehen. Schreiben Sie eine Mail.“

„Wieso Mail – warum rufe ich Sie wohl an?“, poltere ich und bin selbst überrascht über meinen Tonfall. Vielleicht habe ich mich in den letzten Wochen zu sehr an die türkische Dienstleistungsmentalität gewöhnt.

„Bitte schreiben Sie eine Mail. Wir versuchen uns zu beeilen.“

„Meinetwegen. Einigen wir uns auf ein Unentschieden“´, murmle ich tonlos und beende das Gespräch.

Schweigend und gedankenversunken verlassen wir Yusufs Wohnung und fahren Richtung Innenstadt. Sollte die Erteilung unseres Iranvisums an einem zweizeiligen Standardschreiben scheitern?

Samsun erstreckt sich über 30km an der türkischen Schwarzmeerküste. Längst hat die Stadt mit ihren Vororten die Millionengrenze überschritten. Istanbul en miniature. Bis auf einen zentralen Platz mit ein paar netten Gebäuden und Cafés kann sie jedoch kaum Eindruck schinden. Amüsant dagegen die Begegnungen mit den Menschen vor Ort. Zunächst kaufen wir in einem Supermarkt Essen für den anstehenden Kochabend ein. Ich bin für das Besorgen der Beilagen und Saucen zuständig. „Soja sos“, „Domate“ und „Patate“ sind schnell gekauft, bei Zencefil (Ingwer) und Biber (Paprika) wird es schon schwieriger. Der größten Herausforderung sieht sich Minxin an der Fleischtheke ausgesetzt. Ein Plakat mit einer abgebildeten Kuh muss als Kommunikationsgrundlage dienen.

Zwei Stunden später landet das Essen auf dem Tisch: Kelejichi, Heijiaoniurou, Jirousala und Hainanjifan. Yusuf hat seine Freunde eingeladen und alle sind gleichermaßen begeistert, schließlich hat noch niemand von ihnen bisher chinesisches Essen probiert.

Yusuf ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni von Samsun und spricht gutes Englisch. Entsprechend interessant sind seine Ansichten und unsere Gespräche. Yusuf erzählt viel von der Situation der Kurden in der Türkei, beklagt das zunehmende Demokratiedefizit in der Türkei, wünscht sich mehr Rechte für Schwule und Lesben in seinem Land und gibt den Völkermord an die armenische Bevölkerung 1915 unumwunden zu.

In den letzten Wochen haben wir viele nette Türken kennengelernt, mit denen wir uns allerdings selten richtig verständigen konnten. Erst um 1:30 Uhr schauen wir uns die Augenlider von hinten an.

interkulturelle Verständigung im Supermarkt (m.l.); für das iranische Visum braucht Minxin ein Kopftuch (m.m.); wieder chinesisches Essen für unsere Gastgeber (u.l.); ein willkommener Ort, um unser Zelt zu trocknen (u.r.)

9. April: Samsun - Carsamba

Strecke: 51km

Min. Höhe: 0m; Max. Höhe: ...m

Höhenmeter: 51m

Es ist Donnerstag, am Montag wollen wir in Trabzon unser iranisches Visum beantragen, das laut Auskunft des dortigen Konsulats dann Mittwoch fertig sein soll. Wiederum zwei Tage später erlischt Minxins türkische Aufenthaltsberechtigung.

Noch befindet sich Trabzon 280km weiter östlich. Es regnet und wir warten aufs Christkind. Seit Stunden radeln wir eine stark befahrene Straße an der verbauten türkischen Schwarzmeerküste entlang. Tunnel folgt auf Tunnel. Das anatolische Hochland hat uns besser gefallen.

Am späten Nachmittag werden wir von der Straße weg auf einen Tee eingeladen. Ahmet hat lange Zeit in Südafrika gelebt und spricht dementsprechend gutes Englisch. Noch immer trommelt der Regen aufs Wellblechdach der Teestube, genug Zeit also, Ahmets Odyssee über den gesamten Planeten nachzuverfolgen. Mit 20 Jahren kam er ohne Geld und Deutschkenntnisse nach Stuttgart und arbeitete dort schwarz, bis er zusammen mit 20 anderen Türken in die Heimat abgeschoben wurde. Wieder alles von vorne: mit sehr wenig Geld eröffnete er eine primitive Autowerkstatt und hatte wenig später Glück, dass der Sohn des Provinzgouverneurs vor seinem Shop eine Reifenpanne hatte. Nach ein paar Runden Tee bekam Ahmet einen Job in Houston angeboten. Dort lernte er Englisch und studierte Ingenieurwesen. Später ging es nach Südafrika, wo er eine Fahrradtour durch Mosambik, Tansania, Sambia, Simbabwe und Botswana unternahm. Ahmet bietet uns einen Schlafplatz in seiner Wohnung an. Dummerweise befindet sich diese aber 30km entfernt in der Richtung, wo wir gerade hergekommen sind. Wir müssen weiter und genau das ärgert mich. Wir fahren nicht durch ein Land, wir fahren an ihm vorbei. Glücklicherweise wird sich das in Georgien wieder ändern.

Die Voraussetzungen zum Zelten sind angesichts des Schmuddelwetters und der zugebauten Landschaft  auch nicht gerade günstig, doch wir treffen wir Susi, eine Austauschstudentin aus Korea, die uns im nahen Carsamba ein gutes Hotel empfiehlt. Somit ist für heute Abend wieder Susi und Sauna statt Zelten in Flora und Fauna angesagt.

futuristische Architektur in Samsun (o.l.); konstant grauenhaftes Wetter (o.m.); Vorstellungsgespräch bei Metro Bus (m.m.); und: die Schwarzmeerküste (u.m.)

10. April: nach Trabzon; 11. -15. April: in Trabzon

Eine Kopie des vorangegangenen Tages. In einer Stadt, deren Namen mir entfallen ist, halten wir am „Otogar“, um in den Bus nach Trabzon zu steigen. Bevor es soweit ist, werden wir vom größten türkischen Busunternehmen als Werbeträger abfotografiert und schaffen es sogar auf deren Facebookseite.

In Trabzon haben wir nun genügend Zeit, noch alle Unterlagen für das Visum zusammenzutragen. Wir erreichen die Stadt in Dunkelheit und beziehen ein billiges Hotel in der Nähe des Meydan Platzes.

Lonely Planet Reiseführer können in der Regel sogar der langweiligsten und hässlichsten Stadt noch etwas abgewinnen. Selbst unserem Wohnort Hildesheim wird dort eine halbe Seite zugestanden. Wenn eine Stadt wie Trabzon im „LP“ aber als langweilig und uninteressant beschrieben wird, muss es um ihr Image schon schlimm stehen. Wir hingegen erleben Trabzon als angenehme und entspannte Hafenstadt mit zahlreichen Fußgängerzonen und einer noch gut erhaltenen Stadtmauer. Nur 200km von der georgischen Grenze entfernt, ist niemand in Eile und Istanbul scheint Lichtjahre entfernt.

Tags darauf möchte ich ein Fußballspiel besuchen, nachdem das bereits in Istanbul nicht geklappt hatte. Doch weil das Spiel von Trabzonspor gegen Galatasaray Istanbul abgesagt worden ist, besuchen wir stattdessen das griechisch-orthodoxe Sumela Kloster, das sich 50km südlich in den Bergen auf 1100 Meter Höhe versteckt. Ein (hoffentlich) letztes Mal  werden wir vom Schnee überrascht. 

Am Montagmorgen zeigt sich der Himmel in steinernen Grau. Wir tragen schwarz: Minxin streift ihr Kopftuch über, ich ziehe mein bestes Stück an (…einen schwarzen Fleecepullover). Mit einem Berg von Unterlagen aber ohne Bescheinigung der Krankenversicherung schreiten wir zum iranischen Konsulat. Dort treffen wir am Eingangstor auf einen Finnen und Polen, die Ähnliches vorhaben. Es öffnet sich die Tür. Wir dürfen rein. Erste Hürde geschafft.

Wenig später starren vier Menschen aus vier verschiedenen Ländern mit demselben Anliegen im Empfangsraum des iranischen Konsulats auf eine Irankarte, welche die gesamte Wand auszufüllen scheint. Mein Blick gleitet über leere Salzwüsten und zerklüftete Bergketten. Schließlich erscheinen ein Herr mit akkurat frisiertem Haar und eine Dame mit Kopftuch. Erste Frage an uns: „Reference Number?“ „Yes", entgegnen Minxin und ich. Durchatmen, zweite Hürde genommen. „No“ antworten der Finne und Pole. „Internet“, entgegnet der iranische Konsul und weist zum Ausgang, in die Weiten des World Wide Web. Game over für Polen und Finnland. China und Deutschland sind noch im Rennen.

Für die Erteilung eines iranischen Visums braucht man eine sogenannte „Reference Number“, die nur das iranische Außenministerium erteilt. Wir haben sie bei einer iranischen Reiseagentur für insgesamt 100 Euro erworben. Durch das Internet geisterten Gerüchte, man könne in Trabzon ein Visum innerhalb eines Tages auch ohne Reference Number bekommen. Das scheint nun Vergangenheit.

Der Herr nimmt meinen Reisepass und blättert ihn aufmerksam durch bis sein Blick beim bunten kongolesischen Visum auf der letzten Seite hängen bleibt. „Problem“. „Warum Problem?“, möchte ich wissen. „Es fehlt der türkische Einreisestempel“, erklärt er mir im rudimentären Englisch. Tatsächlich, das war mir auch schon aufgefallen. „Sehr schlimm?“ „Ohne türkischen Einreisestempel kann ich Ihnen leider kein Visum erteilen.“ „Wir reisen nicht von der Türkei in den Iran, sondern über Aserbaidschan…“ Nun mischt sich die Dame ein: „Kein Stempel – kein Visum!“, lautet ihr Beitrag zum Thema. Minxin wagt sich auch aus der Reserve: „Schon klar. Wir haben so eine Einreisebestätigung an der Grenze bekommen.“ „Das können wir leider nicht akzeptieren. Aber Sie können….“, fährt der Mann fort, bevor seine Assistentin ihm wieder das Wort abschneidet. Langsam nervt die Frau.

„Go to Batumi“, rät man mir schließlich. Batumi? Eine Stadt in Georgien – unweit der türkischen Grenze. Schlagartig wird mir klar, was das heißt. Ich brauche einen türkischen Einreisestempel. Den erhalte ich erst wieder, wenn ich das Land zuvor verlassen habe. Am besten an der georgischen Grenze, 200km östlich .

Die Zeit drängt, bis Freitag müssen wir die Türkei verlassen haben, dann aber mit iranischen Visum.

Das iranische Diplomatenduo geht kurz in Klausur und führt eine angeregte Diskussion in einer für uns unverständlichen Sprache. In der Türkei sind solche Diskussion über unsere Köpfe hinweg in Landessprache immer ein Zeichen, dass sich die Probleme gleich von selbst lösen werden. Hier bringen sie nur noch mehr Probleme. „Kommen Sie heute um 14:30 Uhr wieder. Wir müssen checken, ob Ihre Reference Nummern okay sind.“ „Ich dachte, ich muss erstmal nach Georgien“. „Das machen Sie bitte nach 14:30 Uhr. Unser System meldet einen Totalabsturz, wir können im Moment leider nicht arbeiten.“

Konsterniert, aber gefasst gehen wir nach draußen. Der Finne und der Pole haben sich an einem Spielplatz niedergelassen und halten Kriegsrat zwischen Schaukel und Wippe. „Naaa, habt ihr schon euer Visum?“ fragen beide ohne jede Verabredung im Chor, als sie uns erblicken. „Nein“, sagt Minxin. „Bei meinem Mann gibt es Probleme“

"Köstlich! Wenn wir schon kein Visum bekommen, dann ihr erst recht nicht. Gegen Ausgrenzung und Zweiklassengesellschaften!" Solche Gedanken würden mir nun durch den Kopf gehen, wäre ich finnischer oder polnischer Staatsbürger. 

Eher ist es eine Dreiklassengesellschaft: der Pole, Anfang 20, der kein Geld für eine Referenz Nummer hat und sich mit Musizieren über Wasser hält. In der Mitte der Finne und ich mit Problemen, die lösbar sind. Und ganz oben und als Einzige sorgenfrei, die Volksrepublik China mit einem schönen roten Ausreisestempel auf dem türkischen Visum. 

Im Zeichen des US-Imperialismus verbringen wir die Mittagspause in einem bekannten amerikanischen Spezialitätenrestaurant unweit vom Meydan Platz.

Sechs Stunden später stehe ich alleine und 200km entfernt am türkisch-georgischen Grenzübergang. Minxin wartet im Hotel auf mich und wird über Screenshots von meiner Kartenapp auf dem Laufenden gehalten, wo ich mich gerade befinde.

Hinter mir liegen 3 Stunden Busfahrt. Bis Rize saß ich neben einem englischsprachigen Türken, der mir erklärte warum das Fußballspiel von Trabzon gegen Fenerbahce Istanbul abgesagt wurde. Nach einem Spiel in Rize wurde der Mannschaftsbus von Istanbul auf dem Weg zum Flughafen von Trabzon von einem Verrückten beschossen. Der Täter wurde bereits gefasst, der darauffolgende Spieltag abgesagt, die türkischen Fußballfans sind bestürzt. Und ich erfahre es erst heute per Zufall.

Hinter Rize änderte sich die Landschaft. Zur Linken weiterhin ein Meer, allerdings kein Schwarzes, sondern ein Moloch aus Beton. Zur Rechten gaben nun üppig bewachsene Hänge mit Teeplantagen Geleit. Dieser Teil der Schwarzmeerküste empfängt auch im Sommer genügend Regen und weist ein fast tropisch anmutendes Klima auf.

Nun stehe ich am türkischen Zoll und verabschiede mich aus der Türkei. „Die Türkei ist ein tolles Land. Ich verspreche, ich komme bald wieder“, rufe ich dem Zöllner hinterher. Und zwar in 5 Minuten. Vorher steht aber noch ein Abstecher nach Georgien an.

Und – wie ist Georgien so? Na, obergeil, Digga: hinter dem Zoll gibt es eine Straße, einen Duty Free Shop, einen Souvenirladen und sogar etwas soziale Interaktion mit den Eingeborenen.Und die läuft wie folgt ab:

 

 

Ein Mann kommt zu mir und sagt: „Taxi?“

Ich antworte: „Nein.“

Der Mann sagt: "Okay."

Ich antworte: "Danke"

Der Mann sagt: "Tschüss"

 

Dann gehe ich wieder in die Türkei zurück. Das wars. Hat Spaß gemacht. Am liebsten würde ich noch eine zweite Runde drehen, wenn in meinem Pass genügend Platz wäre.

Nach einer enervierend langen Busfahrt stehe ich um 23:00 Uhr mit einem türkischen Ausreise-, einem georgischen Einreise- und Ausreise- sowie einem türkischen Einreisestempel übermüdet im Türrahmen unseres Hotels in Trabzon. Die Krankenversicherungsbescheinigung ist irgendwo zwischen Tankstelle und Teeplantage auch noch eingetrudelt. Wir können am nächsten Tag das Visum beantragen.

eine Woche in Trabzon: gerade lange genug, um unser iranisches Visum zu erhalten; teurer Berghonig; Backgammon-Spieler; Sümela-Kloster; Katerstimmung vor der iranischen Botschaft; Stippvisite in Georgien; NICHT OHNE MEIN VISUM (von links oben nach rechts unten)

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Kommentare: 3
  • #1

    zhangxiaoling (Donnerstag, 23 April 2015 13:07)

    雪山好苍茫啊,骑行难度可以想象。格鲁吉亚的甜点看起来很好吃。

  • #2

    zhangxiaoling (Donnerstag, 23 April 2015 13:15)

    看了地图,发现自己说错了,你们还没到格鲁吉亚,那些甜点应该是土耳其的吧。

  • #3

    Christof (Dienstag, 28 April 2015 17:21)

    Liebe Minxin, lieber Florian,
    falls Ihr meine Nachricht nicht erhalten habt: hier nochmals ein dickes Dankeschön für die schöne Karte aus Istambul, die heute (erst) bei uns angekommen ist. Ich denke, Ihr seid mit den Rädern schneller als die liebe Post aus der Türkei. Wir hoffen, daß Ihr wohlbehaltend auf Eurer Reise weitergekommen seid und wünschen Euch weiterhin eine glückliche und unfallfreie Fahrt.
    Liebe Grüße von Inge und Christof