Eine rasante Achterbahnfahrt über die
Alpen, die davon erzählt, wie wir unsere hochfliegenden Pläne zunächst im Schnee begraben mussten, bevor wir doch noch eine wichtige topographische und psychologische Barriere meisterten. Am Ende
steht allerdings die Rückkehr eines fast vergessen geglaubten Traumas.
29. Januar: Heiterwang – Imst
Strecke: 49km (davon 16km per Rad)
Min. Höhe: 808 m, Max. Höhe: 1238 m
Höhenmeter: 424 m
Am nächsten Morgen offenbaren sich Frau Holles nächtliche Eskapaden in vollem Maße: Heiterwang meldet Land unter – einen weiteren halben Meter Neuschnee!
Vor dem Hotel versucht ein blauer Passat Kombi vergeblich, sich aus der Parklücke zu manövrieren. An Fahrradfahren ist kaum zu denken und deshalb steigen wir in die Bahn nach Leermoos.
Und Leermoos gefällt uns! Lifte für die Wintersportler, Apres Ski in der „Lahmen Ente“ für die Feierwütigen, Ice Climbing für die Abenteuerlustigen, Vier Sterne Wellness für den komfortbetonten
Urlauber und über allem thront die Zugspitze.
Perfektes Kaiserschmarrnrevier, ich wittere Morgenluft. Alles da, was das Herz begehrt …alles…nur wo sind die Radfahrer??? Wir kommen uns vor, wie sich ein Skifahrer wohl auf den Seychellen vorkommen muss. Vielleicht verkörpern wir mit unseren Trekkingrädern aber auch nur den Underground in einem angesagten Wintersportort. Skifahren war gestern, wir hingegen sind Visionäre und grenzen uns vom Mainstream ab.
Bei einem Wiener Schnitzel im Berghof schmieden wir Pläne. Es gibt mehrere Varianten, die Reise fortzusetzen: die Komfort - Variante bringt uns per Bahn über die Alpen ins milde Südtirol, die Hardcore – Variante beinhaltet die Überquerung des Fernpasses auf der vereisten Bundesstraße (wovon uns jeder abrät), die etwas überambitioniert anmutende Superhardcore Variante bedeutet das Anmieten eines Räumfahrzeugs inklusive Fahrer. Schließlich entscheiden wir uns für die Kompromiss - Variante und beschließen, die Überquerung des ersten Alpenpasses per Shuttletaxi in Angriff zu nehmen und die Fahrt in Nassereith fortzusetzen. Nach ein paar problemlosen Kilometern dämpfen zugeschneite Radwege rasch wieder unsere Euphorie. Den Nachmittag des 29. Januars verbringen wir somit vorwiegend mit dem Schieben unserer Fahrräder.
Wir versuchen, dieser eher unerfreulichen Situation das Beste abzugewinnen. Schließlich haben schon viele Radfahrer den Weg nach China gefunden, doch keiner von ihnen schiebend. Selbst im Underground verkörpern wir die Avantgarde: mit dem Fahrrad nach China…..aber schiebend! Ist doch auch was!
In Imst schlagen wir unser Nachtlager auf. Bis Südtirol müssen wir noch den wesentlich höheren und anspruchsvolleren Reschenpass bewältigen und Wetterbericht sowie Straßenzustand muten nicht wirklich vielversprechend an, sodass die Bahn plötzlich wieder als beste Alternative erscheint. So richtig zufrieden sind wir mit dieser Lösung allerdings nicht, wollten wir die Alpen doch aus eigener Kraft überqueren. Gleich am Anfang die Jokerkarte ziehen und mit Bus oder Bahn über den Brenner rauschen wäre psychologisch unklug, zumal es später im wesentlich höheren Pamir keine kostenlose Bike-Shuttles geben dürfte wie in den Alpen zur Sommerzeit.
30. Januar: Imst - Pfunds
Strecke: 61 km
Min. Höhe: 710 m, Max. Höhe: 1029 m
Höhenmeter: 577 m
Wir haben eine Nacht drüber geschlafen, und auf einmal gibt es keine Diskussionen mehr. Nach dem Frühstück schnappen wir ohne große Worte zu machen unsere Fahrräder und radeln Richtung Reschenpass davon. Träge wälzt sich der Verkehr über die Inntalautobahn. Die Fahrt verläuft unspektakulär, bis auf einmal zwei schemenhafte Gestalten aus dem Nebel auftauchen: es handelt sich um zwei Schweizer, die in anderthalb Jahren zu Fuß nach Vietnam laufen wollen. Es sind die ersten Personen auf unserer Reise, die ähnlich Verrücktes vorhaben (und dies für einen guten Zweck tun), und die ersten, die beim Erwähnen des Reiseziels „Iran“ nicht ratlos mit den Schultern zucken. Respekt!
Die Mittagspause verbringen wir in der 8.000-Einwohner Kreisstadt Landeck. Wie bei allen anderen Städten im Inntal drängen sich die Gebäude im engen Talboden aneinander. Das Gewerbegebiet liegt direkt neben der Altstadt, und der Baumarkt findet irgendwo zwischen den Eigenheimen noch Platz. Und die Kiesgrube? Kein Problem, kommt neben die Ausfallstraße, wo gerade ein Neubaugebiet entsteht. Die Berge ragen beiderseits des Inns fast 3000m auf und selbst im Sommer dürften die Menschen hier nur wenige Sonnenstrahlen abbekommen.
Immerhin kommt man als Radfahrer in Kontakt mit der freundlichen Bevölkerung. Oft erhalten wir aufmunternde Kommentare oder interessierte Fragen von Schülern, Ärzten oder Taxifahrern. Das ist umso erstaunlicher, denn lange Zeit dachte ich, das österreichische Volk bestünde nur aus Skilehrern, Kellnern oder Liftboys. Die besorgten Nachfragen, ob uns nicht kalt wäre, parieren wir ganz lässig mit der Gegenfrage, ob es angenehmer wäre, den Winter im gemütlichen Österreich zu verbringen oder im windumtosten Pamir auf 4000 Metern mit Nomaden und Ziegenherden. Deshalb sind wir im mitteleuropäischen Winter losgefahren, um die zentralasiatischen Hochebenen im Sommer zu erreichen. Außerdem treiben wir ja schon so etwas wie Sport, und wenn man Sport treibt bewegt man sich ja in der Regel, und wenn man sich bewegt, wird einem automatisch warm. Ist doch logisch, oder?
Nachmittags geht es langsam aber kontinuierlich hinauf nach Pfunds, dem letzten Ort vor dem Reschenpass. Nach jeder Biegung ragen die Berge steiler auf, schrumpft die Straße und der Fluss wird
reißender. Insgesamt verläuft der Tag wesentlich erfolgreicher als der vorangegangene.
Die Straßen sind weitestgehend frei und mit einer schnuckeligen Pension plus einem guten Restaurant samt Bar erweist sich das das kleine Dorf Pfunds als ideales Basislager zum Bezwingen des Passes. Am Abend macht sich Gipfelfieber breit.
31. Januar: Pfunds – Graun am Reschen
Strecke: 32km
Min. Höhe: 971 m, Max. Höhe: 1527 m
Höhenmeter: 747 m
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Passhöhe zu erklimmen: einerseits die weniger steile, aber stark befahrene Bundesstraße oder den Umweg über die Zollstation Martina, hinter welcher 11 Serpentinen lauern.
Wir entscheiden uns für die etwas härtere, zweite Variante, da hier ein geringeres Verkehrsaufkommen zu erwarten ist – vorausgesetzt, dass Osteuropa keine Winterferien hat. Da dies aber genau der Fall ist, jagt bald SUV an SUV an uns vorbei. Tschechische, polnische, ungarische und ukrainische Nummernschilder wechseln sich munter ab. Nach dem etwa 26. tschechischen X6 reicht es mir dann. „Trainieren hier heute sämtliche Olympiamannschaften Osteuropas?“, möchte ich während einer Erholungspause am Parkplatz wissen. „Nein, nicht wirklich. Wir haben zu viel Geld und geben es durch Skifahren aus“´, lautet die etwas nichtssagende Erklärung aus dem verdunkelten BMW.
Immerhin kann Minxin dank dieser Route noch einen neuen Länderpunkt abstauben. Die Zollstation Martina liegt nämlich bereits einige Hundert Meter in der Schweiz, während das gegenüberliegende
Ufer noch zu Österreich gehört.
Nach dem Blitzbesuch bei den Eidgenossen wird es ernst. Der Verkehr lässt schlagartig nach (die SUVs reisen weiter Richtung St. Moritz), die Straße steigt steil an, Serpentine Nummer 1 kommt zum
Vorschein, während mein Blick auf das GPS gerichtet bleibt. Alle 80 Höhenmeter legen wir eine kurze Pause ein. Bei der vorletzten Serpentine lassen unsere Kräfte langsam nach. Ich setze alles auf
eine Karte, leere die Wasserflasche in einem Zug und würge den letzten Müsliriegel hinunter, während Minxin stoisch im Zeitlupentempo an mir vorbeiradelt. Nach 450 Höhenmetern ist es schließlich
geschafft, die enge Passstraße verflacht und ein Schild taucht auf, das die Norbertshöhe auf 1410 Metern ankündigt, unsere erste Bergetappe an diesem Tag.
Wir fühlen uns wie Reinhold Messner nach Durchquerung der Antarktis barfuß und mit verbundenen Augen, doch: „ein harmloser Pass für Anfänger“ oder „kann man als nette Aufwärmung für das Stilfser
Joch nehmen“ lesen wir später in einschlägigen Bikerforen während der Mittagspause.
Diese verbringen wir im Skiort Nauders, das wie so oft in den Alpen eine wahllose Aneinanderreihung von Hotels, Restaurants und Skiverleihen entlang einer Straße darstellt. Trotzdem verbinde ich
mit diesem Ort etwas ganz Besonders, denn hier habe ich als Vierjähriger im Jahr 1980 meine allerersten Gehversuche auf Skiern unternommen.
Ich erkenne auch noch das Hotel wieder, indem wir damals übernachtet haben.
Doch bereits beim Betreten des Foyers bemerke ich, dass sich das gutbürgerliche Familienhotel von einst in den letzten dreieinhalb Jahrzehnten in einen marmorgetäfelten Wellness-Palast verwandelt hat. In den Plüschsesseln räkelt sich nichtskifahrendes russisches Publikum, sodass wir es lieber bei der Billigpizzeria nebenan belassen.
Nach einem Riesenteller Carbonara und hektoliterweise Spezi gilt es, die letzten 200 Höhenmeter zum Pass zurückzulegen. Entlang einer vielbefahrenen Ausfallstraße geht es Meter für Meter voran bis wir schließlich die Passhöhe erreichen.
Vor uns entfaltet sich das majestätische Gebirgspanorama der Zentralalpen, am Horizont leuchtet der Ortler, Südtirols höchster Berg mit 3905 Metern.
Geschafft, wir sind in Italien!
1.000 Höhenmeter haben wir seit München überwunden, im tadschikischen Pamirgebirge werden es 4.000 sein.
Wir fahren am Reschensee entlang, einem 1950 künstlich angelegten Stausee, für den ein ganzes Dorf weichen musste und passieren die Kirche, die noch aus dem See herausragt.
Doch was nun? Es wird bereits dunkel und das nächste Dorf ist laut GPS noch 6km entfernt. Ähnlich wie kurz vor Füssen müssen wir mit der einzig verfügbaren Unterkunft vorlieb nehmen, doch diese hat es in sich: ein 3-Sterne, pardon 3-Sterne superior Hotel mit Sauna und Schwimmbad! Wir gönnen uns diesen unerhörten Luxus und freuen uns auf die nächsten Herausforderungen.
1. Februar: Graun am Reschen – Tscherms (bei Meran)
Strecke: 95km
Min. Höhe: 281 m, max. Höhe: 1527 m
Höhenmeter: 227m
-14 Grad zeigt am Morgen mein Smartphone für den Ort Graun am Reschen an. Begleitet von entsetzten „Wie kann man bei diesem Wetter Fahrrad fahren“ - Ausrufen schreiten wir zu unseren Bikes und bereiten uns mental auf eine rasante Talfahrt vor.
In der Tat liegt das erste Mal seit unserer Abreise in Hildesheim unser Etappenziel unterhalb des Ausgangspunktes: insgesamt 1.200 Höhenmeter ahnen zwischen dem eisigen Reschenpass und dem subtropischen Meran, wo Palmen und Zypressen sprießen.
Es geht gut los, doch rasch folgt die Ernüchterung. Teile der Passstraße wurden nicht geräumt, und wo man Asphalt erwartet, breiten sich gefährliche Eisplatten aus. Wir weichen auf den Fahrradweg aus, trotz abnehmender Höhe und milderen Temperaturen kommen wir aber auch hier nicht richtig voran. Immer wieder zwingen uns vereiste Passagen zum Absteigen. Das ist eher Bobfahren als Fahrradfahren, denke ich entnervt nach einer halben Stunde Rumgerutsche in einer Kiesgrube.
Erst nach der Mittagspause wandelt sich das Bild und aus dem Bobfahren wird Sommerrodeln. Wir jagen die schnurgeraden Fahrradwege talabwärts, als wäre der Teufel hinter uns her. Bald verschwindet der Schnee und die ersten Rebstöcke tauchen auf. Am Abend erreichen wir Meran und somit können wir die bislang längste Tagesetappe feiern. Meran wäre eigentlich mal ein geeigneter Ort für eine Pause und etwas Sightseeing. Doch da wir bereits mit Freunden aus München im vergangenen Jahr ein paar Tage hier verbracht haben, zieht es uns am nächsten Tag weiter nach Süden, aus Südtirol hinaus.
2. Februar: Tscherms (bei Meran) - Salurns
(Südtirol)
Strecke: 64km
Min. Höhe: 176 m, Max. Höhe: 294 m
Höhenmeter: 173 m
Ein schöner Tag. Vor uns breitet sich das sonnige Etschtal aus, der Höhenmesser verharrt bei 280 Metern.
So macht Radfahren Laune, wären da nicht die ehrgeizigen Radsportler, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in unseren Außenspiegeln auftauchen und wenige Zeit später mit einem lässig dahingeraunten „Scusi“ an uns vorbeizischen.
Radfahren ist auch in Italien populär, allerdings anders als wir das kennen. Tourenradler wie wir, die gemütlich übers Land zockeln sind praktisch unbekannt, doch Rennradfahrern begegnen wir immer wieder. Und wer Geschwindigkeitsrekorde aufstellen möchte, muss an Gewicht sparen, daher ersetzen bei den Überholmanövern eigentümliche Akustiksignale („tschupptschupptschupp“, „bububu“) die konventionelle Klingel am Rad.
Wir kehren in einer sogenannten Bikestation entlang der Via Augusta Claudia ein und genießen himmlische Pasta. Nichts auf dieser Welt scheint unseren Frieden zu stören, doch der Schein trügt. Als wir die Rechnung bekommen, nimmt ein längst vergessener Alptraum urplötzlich wieder Gestalt an. Ganz unten, kaum lesbar in winziger Schrift offenbart sich das ganze Grausen in sieben Buchstaben: COPERTO. Hier in Südtirol, zynischerweise noch mit deutscher Übersetzung: Gedeck. Wir haben 2012 während unseres Italienurlaubs die Hölle gesehen und ein fast irreparables Trauma davongetragen. In diesem Moment wird uns bewusst, dass uns eben dieses Trauma die nächsten zwei Wochen verfolgen wird. COPERTO: Gebühren für saubere Teller, vollständiges Besteck und individuelle Bedienung. Zum Glück haben wir diesmal vorgesorgt und unser eigenes Campinggeschirr mitgebracht. Und im Notfall kann ich mich ja in die Restaurantküche stellen und mein Essen selber zu Tisch bringen, sobald es fertig ist. Doch eigentlich muss ich es besser wissen: vor COPERTO gibt es kein Entrinnen, niemals.
Wir radeln weiter Richtung Süden, passieren Bozen. Im Straßengewirr der Hauptstadt Südtirols helfen uns die GPS Tracks von Tobi und Daniela echt weiter. Unsere Freunde aus Berlin sind bereits 2008/09 fast dieselbe Route gereist und haben uns während unserer Reisevorbereitungen nicht nur mit der Routenplanung prima unterstützt.
Am Abend beziehen wir Quartier im kleinen Städtchen Salurn, das sich mit seinen Renaissancehäusern und Altstadtgassen eng an die Felsen der Südtiroler Fleimsalpen klammert. Eine kleine Burg wacht über das 4.000 Einwohnerstädtchen und hier gefällt es uns so gut, dass wir spontan beschließen, nach acht Tagen Radfahren eine kleine Pause einzulegen und eine Nacht länger zu bleiben.
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