Unser mittlerweile 17. Reisekapitel ist das bisher längste und abgefahrenste. Bevor wir nach Aserbaidschan einreisen, lernen wir sehr generöse Georgier kennen,
obwohl wir uns selbst eher in Norditalien wähnen. Jenseits der Grenze übernachten wir in Karawansereien und Olympiazentren, trinken mit Ölarbeitern, besichtigen Schlammvulkane, brechen trotz
Gegenwind sämtliche Streckenrekorde und avancieren am Ende noch unverhofft zu lokalen Medienstars.
2. Mai: Tbilisi - Kachreti
Strecke: 85km
min. Höhe: 403m, max. Höhe: 865m
Höhenmeter: 838m
Es geht bei gutem Wetter durch eine grüne, fruchtbare Landschaft. Mit etwas Fantasie erinnern die Laubwälder und Weinberge zur Linken an den Kaiserstuhl in Baden Württemberg. Rechts dagegen das totale Nichts, ein unheilvoll staubiges, leeres Hügelland, das sich bis zum Horizont dehnt. Kein Baum, kein Strauch. Selbst unsere Karte verzeichnet in dieser Einöde, die weit bis Aserbaidschan reicht, nur ein kleines Dorf und mehrere verlassene Klöster. Wir haben vor zwei Stunden die Millionenstadt Tiflis verlassen und radeln nun am Vorhof zur Hölle entlang. Was zum Teufel hält die Menschen davon ab, dieses Nichts zu betreten?
Auch die Gegend entlang der Straße ist nur mäßig besiedelt. Als einzige Verpflegungsmöglichkeit empfiehlt sich ausgerechnet ein brandneues vier Sterne Resort mit Golfplatz, Pool und Casino, das irgendein wagemutiger Investor zwischen Weinhügel und Vorhölle gesetzt hat. Wir backen kleinere Brötchen und zelten im Schutz einer Polizeistation am Straßenrand. In Ermangelung von Alternativen verlegen wir das Abendessen in die Nobelabsteige. Dort wollen wir auch meine Tante Angelika anrufen, die heute ihren 80. Geburtstag feiert.
Nach Essen und Telefonat brüten wir vor unseren Laptops, bis ein leicht angeheiterter Repräsentant einer lautstarken Tischgruppe erscheint. „Do you need a room?“ „No…thanks“, geben wir zu verstehen. „We camp just across the street near the police station“. In erstaunlich gutem Englisch geht es weiter. Ja, er wüsste das und es täte ihm leid. Als Ausländer müssten wir uns in seinem Land wohl fühlen, und dazu gehöre eine gute Unterkunft. „I will pay a room for you“. Das ist sehr generös – aber lohnt es sich, jetzt spät am Abend, das Zelt abzubauen? Zu unserer Erleichterung hat sich das Thema sofort erledigt, denn das Hotel ist ausgebucht. Der Mann lässt nicht locker. Wenn hier nichts frei wäre, könnte er ein gutes Hotel im 30km entfernten Sighnaghi empfehlen. Für die Übernachtung und die Fahrt mit dem Taxi dorthin würde er aufkommen. Georgische Gastfreundschaft, nicht zum ersten Mal.
Doch mitten in der Nacht ist kein Taxifahrer willens, diese Strecke in Kauf zu nehmen. So bleibt nur die Einladung auf ein paar Gläser Wodka. Wir schreiten aus der Lobby auf die Terrasse und sehen dem Armageddon ins Gesicht. Der Himmel hat alle seine Schleusen geöffnet und stürzt schauerliche Wassermassen auf das nächtliche Georgien. An einem – überdachten -Tisch hat sich der Rest der lautstarken georgischen Sauftruppe versammelt. Nach zwei Runden verabschiedet sich unser Gastgeber und kehrt wenige Minuten freudestrahlend zurück: „I have good news for you. Tomorrow, you will overnight in Sighnaghi‘s best hotel.” Quasi als Entschädigung für die unangenehme Nacht im Zelt heute. Wir fallen auf die Knie vor Dankbarkeit. Zwar sind wir das Übernachten im Zelt gewohnt, doch heute ist alles etwas anders. Während sich die Wodkaflasche leert und der Geräuschpegel antiproportional steigert, wächst der Wolkenbruch zu einem Unwetter von apokalyptischen Ausmaßen heran. Es dampft, grollt und zischt es über dem kleinen Viersternepalast im georgischen Outback, Windböen peitschen Blumenkübel über den Parkplatz, immer wieder tauchen Blitze die Gesichter der Tischrunde in ein gleißendes Licht.
„You are so serious“, sagt Nodir, unser Gastgeber. „Serious“, wie ich dieses Wort hasse, irgendein Arbeitskollege hat mich neulich auch so genannt. Aber so wirklich entspannen kann ich mich nicht. Das Zelt versinkt 500 Meter entfernt in den Fluten und wir können (und wollen auch eigentlich) nicht weg. Einerseits treiben uns selbst 10 Pferde nicht ins Zelt, andererseits hat sich längst eine lebhafte Diskussion zwischen den beiden Fahrradfahrern und den georgischen Hotelgästen entwickelt. Nodir ist Leiter einer großen Baufirma und hat seine Arbeitskollegen heute zu einem Betriebsausflug eingeladen. Uns erinnert das Event eher an Kampfsaufen, an welchem sich auch die Frauen beteiligen. Fast sämtliche Mitglieder der Tischrunde sprechen Englisch, viele von ihnen haben im Ausland studiert und entsprechend weltoffen geben sie sich. „Do you play Golf?“, fragt man uns. „Nur Minigolf“, erwidern wir und wir fühlen uns wie Landeier.
Mit steigendem Alkoholpegel nähen wir uns politischen Themen. „Endlich haben wir einen richtigen Präsidenten. Das unter Sakaschwili konnte man ja nicht mehr Demokratie nennen“, brüllt Nodir. Sakaschwili hat das Land von 2004 bis 2013 regiert. Es gelang ihm das Land in Europa zu integrieren und die Wirtschaft des Landes voranzubringen. „Vergesst, was er Euch erzählt“, raunt uns sein Nachbar zu. „Sakschwili Nachfolger ist seit 2013 im Amt und hat noch nix gemacht. Unter Sakschwili wurde gebaut, gebaut, gebaut, und jetzt steht alles still“. Wie das Leben unter Schewardnadse war, möchten wir erfahren. Schewardnadse ist in Deutschland durch seine Amtszeit als sowjetischer Außenminister eher positiv in Erinnerung. Von 1992 bis 2004 regierte er Georgien bis Sakaschwili nach der Rosenrevolution übernahm. Nodir brüllt vor Lachen. „Wie soll es schon gewesen sein? Toll war es, jeder konnte machen, was er wollte.“ „Ja, richtig“, ruft ihm eine Frau vom Ende des Tisches mit ironischem Unterton zu. „Man konnte für alles Geld verlangen. Sogar wenn man jemanden nach der Uhrzeit fragte“ in der Tat, Georgien gehörte noch in den 90er Jahren zu den korruptesten Ländern des Erdballs. Davon ist nichts mehr zu spüren. Das wiederum ist ein Verdienst des eingangs erwähnten Sakaschwili, den man vor zwei Jahren aus dem Amt gejagt hat. Nun lebt er im amerikanischen Exil, da er in Georgien selbst unter Korruptionsverdacht steht.
Viel später ist der letzte Tropfen Wodka getrunken, das letzte Wort gesprochen. Minxin und ich, mittlerweile alleine, schlummern auf der Couch in der Hotellobby dahin, während draußen ein trüber Maimorgen heraufdämmert.
Als wir aufwachen, hat der Regen endlich nachgelassen. Wir hasten zu den Fahrrädern und fahren zum Zelt, das wir unversehrt vorfinden. Es ist sechs Uhr morgen, wir haben die Nacht kaum geschlafen. Wenig später fallen wir in einen komatösen Schlaf.
Abbild eines turbulenten Tages: Abschied aus Tiflis (l.o.), Radeln durch grüne Ebenen, Trinken mit betuchten Georgiern
(m.u.)
3. Mai: Kachreti - Sighnagi
Strecke: 27km
min. Höhe: 559m , max. Höhe: 1006m
Höhenmeter: 533m
Geraume Zeit später vernehme ich einen Sattelschlepper. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. Minxin sitzt aufrecht neben mir im Zelt und ist in ihre Zentralasien - Lektüre vertieft. Es dauert einige Zeit bis ich die Bruchstücke des gestrigen Abends zu einem stimmigen Puzzle zusammengefügt habe. Minxin ist vor einer halben Stunde aufgewacht. Es ist 13:30 Uhr! So lange muss ich das letzte Mal in meinem Studium geschlafen haben – und da lag ich in irgendeinem Bett, aber nicht in einem durchweichten Zelt neben einer Überlandstraße. Der Regen muss vor Stunden aufgehört haben. Noch immer künden Wasserlachen neben dem Zelt von den nächtlichen Wettereskapaden, doch am Himmel treiben Schäfchenwolken, als wäre nichts gewesen.
Wir bauen das Zelt ab, verabschieden uns von den Polizisten und radeln bei strahlendem Sonnenschein in das historische alte Städtchen Sighnaghi. Es ist ein schöner Tag, die gestrige Nacht wirkt wie in surrealer Traum auf uns. Am Straßenrand sitzen alte Männer. Falls sie nicht gerade mit Dominospielen beschäftigt sind, starren sie auf die Straße und denken nach. Für uns ein ungewohnter Anblick. Sie besitzen kein Smartphone.
Warum südlich der Straße niemand wohnt, möchten wir von einem dieser Rentner erfahren und deuten auf das große Nichts auf unserer Karte. „Das ist Partisanenregion“ sagt ein deutschsprachiger Rentner, der flaschensammelnd auf dem Weg nach Tbilisi ist. In seiner Stimme schwingt Ehrfurcht, fast Angst mit. „Da will keiner hin. Im Sommer ist es dort brutal heiß. Die Sowjets unter Stalin haben versucht das Gebiet zu kolonialisieren und sind gnadenlos gescheitert.“. Das macht die Sache umso interessanter, wenn man bedenkt, dass unter Stalin angeblich unbewohnbare Teile Sibiriens erschlossen wurden.
Nach 15km entdecken wir einen Supermarkt und starten nach einer wahren Plünderungsorgie mit gefüllten Mägen in die zweite Tagesetappe, die uns steil bergauf führt. Nach 250 Höhenmetern stockt uns der Atem.
Vor uns, auf einem Hügel errichtet, liegt die mittelalterliche Stadt Sighnagi, dahinter breitet sich ein wahres Amphitheater von Viertausendern aus, dazwischen eine topfebene Fläche. Norditalien im Westentaschenformat. Mit seinen roten Dächern und der Kathedrale erinnert Sighnagi eine Stadt in der Toskana, dahinter die Poebene, der Horizont begrenzt durch ein Alpenpanorama. Sighnagis historische Architektur wurde in den Jahren 2006-08 grundsaniert und dient(e) anderen georgischen Städten als Vorbild. Heute entfällt die Suche nach einer Unterkunft und so stehen wir nach kurzem Suchen vor dem Hotel Solomoni.
Es ist nicht Nodirs Schuld, dass das Hotel zwar gemütliche Räume zu bieten hat, aber von wahren Ekelbrocken bedient wird. Von Nodirs weißem Kuvert samt Reservierungsbestätigung per Fax lässt man sich nicht beeindrucken, unser Versuch, die Fahrräder innerhalb des Hotels zu verstauen, werden mit einem brüsken „This is Lobby!“ abgeschmettert. Bisher war es nirgendwo ein Problem, unsere Fahrräder in einer Unterkunft abzustellen, notfalls fand sich immer eine Garage oder Abstellkammer.
Dieses Hotel sei nicht für Fahrradfahrer geeignet, sagt man uns. Minxin deutet Richtung Putzhilfe. „Wo die Putzutensilien sind, ist noch Platz für Fahrräder“. Doch auch dieser Einwand zeigt nicht den gewünschten Erfolg.
Erst als wir uns die Fahrräder schnappen, um uns nach Alternativen umzusehen, bedeutet man uns zu bleiben. Völlig unerwartet hat man noch eine Garage gefunden, die sich direkt neben dem Hotel befindet. Meine Frage nach einem Elektronikladen (seit der gestrigen Chaosnacht vermisse ich das Netzkabel für meinen Laptop) wird mit einem entschiedenen „No!“ quittiert. Wir sind froh als wir im Zimmer sind und unsere Ruhe haben.
Campen an einer Polizeistation (l.o.), Blick auf Sighnaghi (r.u.)
4. Mai: Sighnagi - Balaken (Aserbaidschan)
Strecke: 67km
min. Höhe: 323m , max. Höhe: 943m
Höhenmeter: 386m
Wir nutzen den Morgen, uns die Altstadtgassen Sighnaghis anzusehen, bevor wir Richtung aserbaidschanische Grenze aufbrechen, die noch 50km entfernt von uns liegt. Bis zum Abend möchten wir dort sein und wir wissen nicht so recht, was uns dort erwartet.
Obwohl Aserbaidschan von immerhin 10 Millionen Menschen bewohnt wird, entdecken wir auf unserer Landkarte nur wenige Städte, die zudem weit voneinander entfernt liegen. Wir wissen im Vergleich zum Nachbarland Georgien nicht viel von Aserbaidschan und seinen Sehenswürdigkeiten. Okay, hier gibt es Erdöl, man hat 2011 den Grand Prix Eurovision de la Chanson gewonnen und seit über zwei Jahrzehnten leidet das Land unter dem Bergkarabach – Konflikt mit dem ungeliebten Nachbarland Armenien. Das reicht aber bestenfalls für etwas Smalltalk mit Einheimischen.
In Unkenntnis des Reiseziels standen lange Zeit drei Routenvarianten zur Disposition: Nummer 1 degradiert Aserbaidschan zum reinen Durchgangsland und führt von Tbilisi auf kürzesten Wege zur Grenze, und von dort über die zweitgrößte Stadt Ganca an die iranische Grenze. Route zwei ist eng an Danielas und Tobis Strecke von 2009 angelehnt und wagt einen Abstecher in den Kaukasus bevor es über die Kura-Ebene nach Süden Richtung Iran geht. Variante drei ist die längste Option und bezieht noch die Hauptstadt Baku mit ein.
Lange Zeit scheint es so als würde die Transitvariante Nr. 1 das Rennen machen, nachdem Tobi uns per Mail aber noch einige interessante Tipps auf den Weg gegeben hat, nehmen wir uns Zeit für ein paar Abstecher und entscheiden uns für die zweite Variante.
Nun beginnt auch für mich die Visapflicht. Georgien hat eher halbherzig einen Schlagbaum und ein Zöllnerhäuschen an der Grenze aufgebaut, auf aserbaidschanischer Seite grüßt ein gelb angestrichener Gebäudekomplex für verschiedenen Fahrzeuge mit verschiedenem Anliegen. Vor den Abfertigungsgebäuden wartet eine Gruppe von jungen Männern auf Arbeit. Ein etwas größerer Herr mit Vollbart erscheint, und bedeutet uns mit einer kurzen Handbewegung stehenzublieben. „You wait here“. Das tun wir dann auch. Minxin und ich, verloren auf einem riesigen betonierten Areal. Nach ein paar Minuten Wartezeit dürfen wir unsere Pässe vorzeigen. Unser Gepäck wird in einem separaten Gebäude durchleuchtet. Der Zöllner in Georgien erzählte uns noch lautstark Witze, die Männer wirken hier ruhiger, mit einer Prise orientalischer Gastfreundlichkeit, wie wir sie oft in der Türkei erlebten. Welcome to Azerbaijan.
5. Mai: Balaken - Sheki
Strecke: 93km
min. Höhe: 255m , max. Höhe: 569m
Höhenmeter: 916m
Sind wir nun endlich in Asien gekommen? Die Frage lässt sich nicht so leicht beantworten. Geographisch betrachtet, markiert die Manytschniederung in Russland nördlich des Kaukasus die Nahtstelle zwischen Okzident und Orient. Historisch bestanden zwischen Georgien und Europa viele Verbindungen, die Einwohner Georgiens bezeichnen ihre Kaukasusrepublik gerne vielsagend-nichtssagend als „Balkon Europas“. Aserbaidschan hingegen wendet sich geographisch von Europa ab zum Kaspischen Meer und verneigt sich Richtung Mekka.
Der Name Aserbaidschan beschwört Bilder von hitzeflirrenden Wüsten, stolzen Karawanen und prächtigen Moscheen herauf. Wir hingegen radeln bei Nieselregen durch eine grüne Landschaft mit nebelverhangenen Bergen, die bei Mitteleuropäern sehr vertraute Assoziationen hervorruft. Das Aussehen der Menschen und ihre Sprache hingegen erinnert an die Türkei.
Seitdem man vor 24 Jahren die Unabhängigkeit vom Sowjetreich erlangt hat, ist man bemüht, das kommunistische Erbe mit Macht abzuschütteln. Die Städte sind wahre potemkinsche Dörfer mit langen neu errichteten Häuserzeilen, welche die Sicht auf die baufälligen Fassaden stadteinwärts nehmen sollen. Sowjetische Plattenbauten, in Georgien noch ein vertrauter Anblick, werden diesseits der Grenze mit einer beigen Kaugummifassade überklebt. Ebenso zeitgenössisch sind die Kreisel mit gigantischem Flaggenmast an den Ausfallsstraßen, bewacht von einem Portrait des 2003 verstorbenen Präsident Elijev, der mal sinnend, mal gutmütig und mal streng auf sein Volk herabblickt. Seit seinem Tode regiert der Sohn das Land.
Nicht nur aus solchen Gründen fühlt sich Minxin immer mehr an China erinnert. Oft sind es Details, wie die breiten Betonboulevards, die gigantischen Plätze oder die leeren und endlosen Hotelkorridore in den austauschbaren Provinzstädten.
Auf der Straße selbst dagegen das alte, gewohnte Bild. Während die georgischen Straßen in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit westlichen Gebrauchtwagen geflutet wurden, scheint Aserbaidschan die totale Ladaisierung des Kaukasus anzustreben. Die russische Automobilmarke ist hier nach wie vor das meistgefahrene Auto. Wir begegnen ihr in allen Farben, Formen und Altersklassen, angefangen von den allerersten Schiguli Modellen, die mit Krepppapier und Blumendraht notdürftig zusammengehalten werden bis zu den geradezu modern anmutenden Priora und Kalina Modellen, die in Deutschland niemand kennt.
Bald müssen wir uns von liebgewonnenen Gewohnheiten verabschieden. Aserbaidschan ist das erste Land in dem unsere Maestro- bzw. Kreditkarten wertlos sind. Zum Glück liefern ATM Maschinen ausreichend Nachschub an Bargeld. Doch oft fällt es schwer, dieses auszugeben. Das Land zeigt sich verschlossen, Restaurants in den Städten sind rar. Und wenn wir eines finden, vermissen wir drei Dinge: Messer als Besteck, eine Speisekarte und Abwechslung. In Aserbaidschan gibt es im Restaurant nicht etwa Essen, sondern nur DAS Essen. Dabei handelt es sich meistens um gegrilltes Fleisch, das zusammen mit Salat, Brot und Schafskäse zusammen serviert wird. Auf Nachfrage kann man einen Teller Pommes dazubestellen. Reis und Nudeln, obgleich in den Verkaufsläden (Supermärkte im engeren Sinne gibt es ebenso wenig) überall verfügbar, sind praktisch unbekannt.
Und obwohl wir nun wieder durch ein islamisches Land fahren, hören wir nur selten den Ruf eines Muezzins. Nur 11% der aserbaidschanischen Bevölkerung bekennen sich zum Islam, 4% sind Christen, der Rest ist, von einigen Minderheiten abgesehen, konfessionslos. Somit hat die staatlich verordnete atheistische Erziehung in der Sowjetzeit wahre Dienste geleistet.
Dafür entdecken wir überall im Lande freundliche Menschen, die lächelnd am Straßenrand stehen und uns im Lande willkommen heißen. Mit der Zeit reift dieses Begrüßungsritual zu einem Automatismus, sodass wir oft selbst die Initiative ergreifen und den Autofahrern zuwinken, bevor sie uns registrieren. Bleiben wir an einem zentralen Platz stehen, um unsere Routenplanung zu diskutieren, sind wir sofort von einer Traube von hilfsbereiten aserbaidschanischen Männern umringt. Auch die Einladung auf eine Tasse Tee gehört hier zum Usus.
Wir weichen entgegen einiger Warnungen auf eine nichtasphaltierte Nebenstrecke aus und radeln am Rande des nebelverhangenen Kaukasuskamms entlang. Nach einem guten Start wandelt sich die Strecke in eine wahre Holperpiste. Die Dörfer mit ihrer einförmigen Architektur hinterlassen einen gepflegteren Eindruck als in Georgien. Wahrscheinlich hat Präsident Eliyev jun. Die Dorfbevölkerung angewiesen, jedes Gebäude anzumalen und mit neuen Dachziegeln zu decken.
6. Mai: in Sheki
Unsere zweite aserbaidschanische Nacht verbringen wir in Sheki, einem Stützpunkt für Karawanen auf der Seidenstraße. So ist es naheliegend, dass wir die Nacht in der alten Karawanserei verbringen, die sich als unserer bisher schönste Unterkunft erweist. Daher nochmal vielen Dank für den Tipp, Tobi!
Am Nachmittag besichtigen wir den alten Königspalast der Stadt Sheki. Vor dem kleinen Palast haben sich bebrillte und mehrheitlich ergraute Herrschaften versammelt. Ein paar Kamerateams eilen hastig über den geschotterten Platz.
Die Fernsehteams sind wegen eines Kulturaustausch angereist, der zwischen einer aserbaidschanischen Privatuni und einer deutschen Partneruni stattfinden soll. „Eine reine Werbeveranstaltung“, flüstert uns eine Unidozentin aus Augsburg zu. Träger dieser Veranstaltung ist nämlich – wie kann es anders sein - Präsident Elijev posthum.
Ein aserbaidschanischer Regionalsender entdeckt uns und lädt uns zu einem Interview ein. Wir sagen sofort zu. Warum nicht neben unseren herkömmlichen Jobs noch ein zweites Karrierestandbein aufbauen? Die Rolle als Rampensau bei einem aserbaidschanischen Regionalsender bietet hierzu eine perfekte Einstiegsmöglichkeit – if you can make it in Azerbaijan, you can make it everywhere.
Sheki, einer der wenigen touristisch geprägten Orte Aserbaidschans mit 4-Sterne-Hotel (m.o.) und Karawanserei
(r.o.)
7. Mai: Sheki - Chalabad
Strecke: 55km
min. Höhe: 72m , max. Höhe: 659m
Höhenmeter: 180m
Nach Sheki mutet die Landschaft zum ersten Mal auf unserer Reise exotisch, geradezu fremd an. Vorbei an wogenden Klatschmohnfeldern steigen wir von den Höhen des Kaukasus hinab und radeln auf saftig grüne Ebenen zu. Am Horizont breiten sich grüne Hügelketten wie Seide aus. Mit den schneebedeckten Gipfeln des Kaukasus erinnert der Norden Aserbaidschan an das chinesische Tienshangebirge oder den mongolischen Altai.
Doch wir haben kaum Zeit, diese Landschaft zu genießen, denn heute um 16:30 Uhr soll auf Regio TV, unser Interview ausgestrahlt werden. Die Suche nach einem Fernsehgerät verläuft zunächst erfolglos. Die Jungs von der Tanke spielen lieber Karten als in die Röhre zu schauen, in der Kantine nebenan hat man auf einem erhöhten Tisch einen betagten Fernseher drapiert. „Njet robota“, lässt uns der Wirt wissen. Wütend treten wir in die Pedale und erreichen um exakt 16:30 Uhr ein Dorf. Wir hetzten zum erstbesten Haus und entdecken einen Landwirt, der gerade an seinem alten Lada schraubt.
Was macht ein aserbaidschanischer Landwirt, wenn urplötzlich vor ihm zwei verstaubte (Westliche) Touristen herumhüpfen und dabei immer „Darf ich Fernsehen?“ kreischen? Richtig, er ruft nicht den Arzt oder die Polizei, sondern lädt sie zu sich nach Hause ein und weist seine Frau an, Tee und Wodka für die Aliens zuzubereiten. Wir eilen ins Wohnzimmer und hämmern um 16:38 Uhr das kleine Plastikdreieck mit der Aufschrift „on“ in das Gehäuse des Fernsehers. Die Sendung läuft schon, es wird über eine eingestürzte Brücke berichtet. Nichts verpasst also. Wir nehmen unter Staunen der Kinder auf der Couch Platz. Ein wenig peinlich ist uns das schon – ich fühle mich wie Dustin Hofman, der im Film „Rainman“ einen Autismuskranken spielt, der nicht aus seinem gewohnten Tagesablauf ausbrechen kann und jeden Tag dieselbe Sendung im Fernsehen gucken muss, unabhängig davon wo er sich gerade befindet.
Doch heute gilt es für uns, den Grundstein für eine kometenhafte Hollywoodkarriere zu legen, und da müssen sentimentale Befindlichkeiten zurückstehen. Bewaffnet mit Smartphone und Kamera, kauern wir auf der Couch, bereit zur Attacke. Nach mehreren Autounfällen und entlaufenen Kühen verirren sich doch glatt ein paar Radfahrer auf den Bildschirm. Mit einem Hechtsprung erreichen wir gerade noch rechtzeitig den Fernseher und zücken unsere Aufnahmegeräte. Seit einer Woche läuft die „Tour d’Azerbaijan“, ein landesweites Radrennen und so etwas wie die aserbaidschanische Antwort auf die Tour de France. Doch jegliche Hoffnung verfliegt, als im nächsten Beitrag ein paar zu kurz gekommene Wasserballer irgendeinen Gummiball wahllos durch eine Schwimmhalle schmeißen. ERBOST und von allen Illusionen beraubt, verlassen wir hängenden Kopfes das Wohnzimmer, bis auf einmal der Königspalast von Sheki ins Bild rückt. Wir begeben uns wieder in Habachtstellung und knien am Fernseher. Der nette schwäbische Gründer der Privatuni lobt den Wissensdurst der aserbaidschanischen Studenten, auch die Dozentin aus Augsburg kommt zu Wort. Es ist soweit.
Dann Waschmittelwerbung. Es ist vorbei. Zwei wodkageschwängerte Tränen rinnen über meine Wangen. Bevor uns der Schmerz übermannt, verabschieden wir uns schwermütigen Blickes vom Landwirt und radeln davon. Das harte Straßenpflaster hat uns wieder. Die Eroberung Hollywoods muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Heute reicht es nur zu ein paar Facebookeinträgen von neugierigen Aserbaidschanern, die uns am Straßenrand mit ihrer Handykamera fotografieren.
Am Abend zelten wir unter einem Baldachin von Laubbäumen hinter einer kleinen Kneipe. Dort servieren uns drei überaus freundlichen aserbaidschanischen Jungs Fisch aus dem nahegelegenen Mingetschaursee. Dazu reicht man uns Bier, damit wir unseren Kummer ertränken können. Aber mal im Ernst, Aserbaidschan langweilig? Das hatten wir von mehreren Fahrradtoureros so gehört. Nun, bisher können wir uns wahrlich nicht beklagen: tolle Landschaften, ein schöner Zeltplatz, nette Menschen und eine Kneipe, was will man mehr?
Trotz der Kommunikationsbarriere erfahren wir, dass einer der Männer zur Sowjetzeit im fernen Anadyr gedient hat, das sich 8 Zeitzonen und 10.000km östlich in Tschukotka unweit von Alaska befindet. Stalin hat diese Gegend in den 30er Jahren „kolonialisiert“ und mit einem Netz von Gulags überzogen. Unzählige Menschen mussten dort oder beim Bau von Eisenbahnstrecken ihr Leben lassen. Selbst wenn der Militärdienst in den 1980er Jahren dort weniger bzw. keine Opfer gefordert hat, werden wir das Gefühl nicht los, das sich unsere Fahrradreise gegenüber einem Militärdienst im eisigen Tschukotka wie ein Gang zum Zigarettenautomaten ausnimmt.
8. Mai: Chalabad - Kürdamir
Strecke: 120km (bislang Rekord)
min. Höhe: -17m, max. Höhe: 107m
Höhenmeter: 133m
Nachdem uns das aserbaidschanische Regionalfernsehen unsere TV-Karriere versaut hat, verlegen wir uns wieder auf sportliche Aktivitäten. Heute möchten wir zum ersten Mal während einer Tagesetappe die 100km Schallmauer durchbrechen. Als bisheriger Rekord stehen 99km in der Ost Türkei zu Buche. Wir radeln nach Osten auf das Kaspische Meer zu. Vor uns liegt sterbensplatte Wüstensteppe, die sich konturenlos bis zum spiegelglatten Horizont erstreckt. Immer wieder sucht das Auge nach Fixpunkten, bleibt an versprengten Baumgruppen oder kleinen Gehöften hängen und verliert sich wieder im Nichts. Eine echte Rennstrecke also, wenn der lästige Gegenwind nicht wäre.
Für unsere Route zeigen die Aserbaidschaner kein Verständnis. „Fahrt nach Baku“, hat man uns empfohlen. Baku mit seiner UNESCO-Welterbe geschützten Altstadt und der futuristischen Skyline verkörpert den ganzen Stolz des Landes. Die Strecke in die pulsierende Hauptstadt führt durch interessantes hügeliges Terrain, während unsere Variante kaum landschaftliche Höhepunkte bietet. Doch nach dreimonatigen Radeln durch Gebirge bei wechselhaftem Wetter ist uns jetzt genau nach flachen, geraden Strecken zumute.
Am Abend haben wir unser Ziel erreicht: bei km 105 bauen wir unser Zelt auf und stellen überrascht fest, dass der Boden hier ein übler Morast ist. Wir packen das Gestänge wieder ein und halten vergeblich nach Möglichkeiten zum Campen Ausschau. Als es bereits fast dunkel ist, erreichen wir müde die Kreisstadt Kürdamir. Etwas wahllos und unmotiviert halten wir vor einem hotelähnlichen Gebäude. Ein grauhaariger, untersetzter Mann wankt torkelnd aus der Tür und stellt sich als Elvin vor. „Welcome to Azerbaijan! You are my guests today“. Ihn umweht eine penetrante Alkoholfahne. „Gibt es hier ein Zimmer?“, stoßen wir entkräftet hervor. Wir sind bei glühender Hitze heute 120km gegen den Wind geradelt. „Natürlich. Das ist eigentlich ein Appartmentkomplex für Angestellte von British Petroleum. Doch wir haben ein Zimmer für euch.“ Erleichtert schieben wir unsere Fahrräder in das Gebäude, als sich der Mann in unseren Weg stellt. „Meine Freunde! Vergesst die Fahrräder, lasst uns erstmal Wodka trinken!“ „Wir möchten uns erst umziehen und duschen.“ Die Augen des Mannes werden groß. „Warum denn? Seid ihr nicht meine Freunde?“
Bevor wir eine Antwort parat haben, erscheint ein weiterer, großgewachsener Herr mit Halbglatze, der mich ein wenig an Laurenz Meyer erinnert. Laurenz Meyer ergießt einen russischen Wortschwall über uns, dem ich entnehme, dass diese Wohnung ausschließlich für BP Mitarbeiter bestimmt sei. Nachdem wir mit Elvins Unterstützung eine „sogenannte“ Ausnahmegenehmigung zum Bewohnen der Werkswohnung erhalten haben, möchte uns Laurenz Meyer dafür unverschämte 80 Euro abknöpfen. Wir handeln den Preis auf 30 Euro runter und verschwinden entnervt in unserem Zimmer. Doch Elvin iIst uns gefolgt und steht wenig später freudestrahlend mit einer vollen Flasche Wodka im Türrahmen. Ich folge meinem allabendlichen Ritual und lege mich demonstrativ vor Elvins Augen auf mein Bett. Wieder weiten sich Elvins Augen. „Wollt ihr nichts trinken? Seid ihr nicht meine Freunde?“ Wir versichern ihm, er sei ein sehr guter Freund, wir müssten uns nur kurz duschen.
Kaum ist Elvin verschwunden, klopft es wieder an der Tür. Jetzt ist Laurenz Meyer ante portas und fordert Geld ein, und zwar 50 Euro, mehr als verabredet. Ich spüre wie eine unbändige Wut in mir aufsteigt. Bisher hatten wir die Aserbaidschaner als höfliche und vor allem rücksichtsvolle Menschen kennengelernt, umso unverständlicher ist dieses Irrenhaus. Minxin schiebt – wie ursprünglich abgesprochen – 30 Euro unter dem Türrahmen hindurch. Laurenz Meyer möchte mehr. Wir lehnen lautstark ab. Laurenz Meyer tritt gegen die Tür. Wir sind kurz davor auszurasten.
Bevor die Situation eskaliert, rettet uns Elvin mit seinen Englischkenntnissen zum zweiten Mal und handelt den Preis auf die ursprünglich vereinbarten 30 Euro runter. Als Kompensation fordert er uns zu ein paar Runden Wodka heraus. Notgedrungen willigen wir ein und holen noch Laurenz Meyer an Bord, um die Halb-Literfalsche auf vier Personen zu verteilen und unseren Alkoholkonsum auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Während Laurenz Meyer mürrisch schweigt, schüttet uns Elvin sein Herz aus. Er ist bereits zum dritten Mal verheiratet, nachdem die erste Frau unheilbar krank wurde und aus der zweiten Ehe keine Kinder hervorgingen (in Aserbaidschan ein NoGo!). Im dritten Anlauf klappte es schließlich mit dem Nachwuchs, doch für ihn ist und bleibt die Ehe ein Zweckbündnis. Während seine Frau mit den Kindern in Baku lebt, fristet Elvin ein kümmerliches Dasein in der staubigen Provinz.
Als wir den Tisch verlassen wollen erscheinen noch ein paar aserbaidschanische Mitarbeiter des britischen Mineralölkonzerns. Einige von ihnen sprechen sehr gutes Englisch. „Gewinnt Bayern noch die Champion’s League?“ „Welches Land hat Euch auf eurer Reise am besten gefallen?“ „Halten Eure Fahrräder?“ Nachdem sich der Verlauf des Abends bisher im Spannungsfeld zwischen melancholisch und bekloppt bewegt hat, sind solche Menschen eine echte Wohltat.
Campen hinter der Kneipe (l.o.), nette junge Männer als Gesellschaft (m.o.), Ölarbeiterunterkunft am nächsten Abend
(m.u.)
9. Mai: Kürdamir - Shirvan
Strecke: 85km
min. Höhe: -14m, max. Höhe: 19m
Höhenmeter: 70m
Ähnlich wie der vorangegangene Tag verheißt auch dieser keine landschaftliche Abwechslung. Wir radeln stoisch in Richtung Osten und hängen eigenen Gedanken nach. Ob St. Pauli noch den Klassenerhalt schafft, nachdem die Konkurrenz gestern sämtliche Spiele gewonnen hat. Wie wird uns der Iran gefallen? Sind die Postkarten endlich in Deutschland angekommen?
Ähnlich wie das Nachbarland Georgien erleben wir auch Aserbaidschan im Umbruch. Die schlaglochübersäte Teerpiste aus der Sowjetzeit wird zu einem vierspurigen Highway ausgebaut. Entlang der Straße entstehen moderne Bauten, die immer wieder derselben Bauweise folgen silberne Blechfronten mit blau getönter Spiegelglasfassade, wie man sie auch oft in China sieht.
Wir radeln bei heftigen Gegenwind wie durch zähflüssigen Honig. Erst der Abend zaubert ein paar Blasen in die pfannkuchenflache Landschaft. Eine merkwürdige Gegend ist das hier! Kraftlos steht das müde Gras in der Steppe, Ölpumpen fördern den Reichtum Aserbaidschans zu Tage, zu unserer Rechten erstreckt sich ein pechschwarzer See. Wir nächtigen im Olympiazentrum von Shirvan – wie jede aserbaidschanische Kreisstadt ist auch Shirvan mit einem solchen Sportzentrum versehen worden. Aserbaidschan rüstet sich für die ersten europäischen Spiele, die bereits nächsten Monat in Baku eröffnet werden, und trimmt sein Volk auf Sportlichkeit. Jede Stadt soll sich auf eine bestimmte Sportart konzentrieren. In Shirvan ist es der Schwimmsport, später werden wir in Salyan Boxringe und in Mazalli Volleyballfelder entdecken. So oder so – wer nicht im Zelt pennen möchte, für den sind diese Sportzentren selbst in größeren Kreisstädten oft die einzige und dazu noch preiswerte Übernachtungsmöglichkeit. Aserbaidschan, so scheint es uns, ist absolut nicht auf Touristen eingestellt. Doch dieses Hotelkonzept – ein Sportzentrum mit angeschlossenen Übernachtungsmöglichkeiten - empfinden wir als etwas schrullige, aber sympathische Idee.
Abschied von den Ölarbeitern (l.o.), Samstag abend, kurz vor der Sportschau (folgende Fotos), Olympiaherberge
(m.u.)
10. Mai: Shirvan - Shirvan Nature Reserve
Strecke: 53km
min. Höhe: -13m , max. Höhe: 42m
Höhenmeter: 115m
Nachdem wir nach längerem Suchen bei einer Dönerbude unsere leeren Mägen gefüllt haben, radeln wir über schlechte Nebenstraßen zum Shirvan Nature Reserve, wo wir uns Europas letzte in freier Wildbahn lebende Gazellen und ein paar Schlammvulkane besichtigen wollen. Bevor es soweit ist, geht jedoch Minxins Halterung am Fahrradsattel kaputt. Es ist das erste fahrradtechnische Problem, das wir nicht aus eigener Kraft beheben können. Glücklicherweise finden wir schnell eine Autowerkstatt samt einigen findigen aserbaidschanischen Kfz Mechanikern, welche die gebrochene Halterung im Nu wieder zusammenschweißen.
Am Abend zelten wir am Rande des Shirwan Nationalparks und freuen uns auf die anstehende Besichtigungstour. Der Parkranger empfängt uns mit dem Worten: „Seid ihr nicht dieses radelnde Paar aus China und Deutschland? Ich habe euch heute im Fernsehen gesehen.“
Test the West: Coca Cola als Willkommensgesdchenk in Shirvan (r.o.), ein gebrochener Sattel und die Folgen
(l.u.)
11. Mai: Shirvan Nature Reserve - Salyan
Strecke: 22km
min. Höhe: -14m , max. Höhe: -7m
Höhenmeter: unerheblich
Mit Ikhmet, unserem Tourguide erkunden wir in einem alten Lada Schiguli die topfebene Wüstensteppe des Shirvan Nature Reserve, die nach den letzten Regenfällen zu einem wahren Blütenmeer erwacht ist. Gelegentlich sorgen am Horizont dahinsprintende Gazellen für etwas Abwechslung. Die versprochenen Schlammvulkane verstecken sich unweit des Kaspischen Meeres in einer wahren Mondlandschaft. Dabei handelt es nicht um Vulkane im eigentlichen Sinne. Schlammvulkane entstehen durch aufsteigendes Gas, das Schlamm mit an die Erdoberfläche transportiert.
Den Mittag verbringen wir am „Watchtower“, der an den Ufern eines flachen, schilfbewachsenen Sees errichtet wurde. Hier erleben wir die Natur noch im Urzustand: die Luft ist erfüllt von Froschgegacker und dem Zwitschern, Piepen und Pfeifen der Vögel. Nichts trübt diese Idylle bis ein schwerer SUV mit quietschenden Reifen am Watchtower hält.
„Ich muss gehen, der Direktor ist da“, flüstert Ikhmet nervös und verschwindet im SUV. Wir werden Ikhmet nie wieder sehen. Wenn der große Boss kommt, gelten andere Spielregeln. So ist das halt in Aserbaidschan.
Wir fühlen uns, als hätten wir den Nationalpark für uns alleine, doch Ikhmet hat einen anderen Fahrer hebeordert, der uns aus diesem kleinen Paradies entführt. Eine halbe Stunde später radeln wir wieder auf brüchigen Asphalt über eine enge und stark befahrene Landstraße nach Süden.
12. Mai: Salyan - Göytäpä
Strecke: 103km
min. Höhe: -20m , max. Höhe: 15m
Höhenmeter: 89m
Zum zweiten Mal schaffen wir mehr als 100km an einem Tag. Unter kognitiver Anteilnahme der lokalen Bevölkerung („Hello! What is your name! You want sleep with me?“, etc.) radeln wir durch eine wenig spektakuläre Landschaft Richtung Süden.
Doch irgendetwas ist anders. Seit gestern haben sich die Begrüßungsrituale der Aserbaidschaner geändert, mehrfach höre ich, wie die Menschen hinter vorgehaltener Hand am Straßenrand tuscheln. Dabei höre ich ein paar Mal die Wörter „TV“, „Almanya“, „Chine“, „Turist“ „Bicyclet“ heraus – das Fernsehen hat unseren Beitrag mit zwei Tagen Verspätung gesendet. Da nun meine Nationalität bekannt ist, nehme ich oft Begrüßungen wie „Guten Tag“, „Wie geht es Ihnen?“, „Ich heiße …“ und als etwas unkonventionellere Form der Völkerverständigung auch mal einen Hitlergruß entgegen. Man gewöhnt sich daran.
Den Tag über hängt der bleischwere, wolkenverhangene Himmel trist über der aserbaidschanischen Steppe. Am Nachmittag tauchen wie aus dem Nichts Bäume entlang der Straße auf. Wir verlassen die Wüstensteppe und wenden uns jetzt dem grünen Süden Aserbaidschans zu.
Mit jedem Baum und Bauernhof steigt unsere Motivation weiterzufahren, um der schwülen Hitze zu entkommen. Weit gefehlt. Der Himmel verfinstert sich immer mehr und bald zeichnen sich die Lichtkegel unserer Fahrradlampen auf dem Asphalt ab. In der Ferne donnert es. Bevor wir vom Unwetter überrascht werden, holt uns Kemal von der Straße und lädt uns zu sich nach Hause ein. Kemal betreibt mit seinem Vater eine Bar in Göztäpä, einem 10.000 Einwohner-Kaff im Süden Aserbaidschans. Wir verbringen den Abend in seiner Bar, wo im TV eine aserbaidschanische Komödie läuft. Eine Frau mit Kopftuch brüllt ununterbrochen ihren Ehemann an.. Während der Film läuft rätseln Minxin und ich über die Rolle der Frau in diesem Lande. Obwohl wir Aserbaidschan als nicht besonders islamisches Land erleben, beherrschen Männer die Szenerie. Natürlich bekommt eine Frau hier eine andere Rolle zugewiesen, zahlreiche Möglichkeiten und Chancen bleiben ihr verwehrt. Dennoch, so unserer oberflächlicher Eindruck nach 10 Tagen Aserbaidschan, wird sie in ihrer Rolle respektiert und selten abschätzig behandelt. Die wenigen Frauen, die wir trafen, agierten selbstbewusst und sagten klar und deutlich ihre Meinung – vorausgesetzt sie kamen auch zu Wort.
Noch drei Tage Aserbaidschan, dann werden wir in den Iran einreisen und Europa endgültig hinter uns lassen.
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Peter Straub von der Knorr-Bremse in München (Montag, 18 Mai 2015 17:23)
Vielen Dank für die tollen Bericht!
Ich verfolge nach wie vor Euere Reise.
Ich bin schon gespannt, wie es Euch im Iran ergeht.
Viel Glück!
Tobi (Mittwoch, 20 Mai 2015 18:13)
Ah, die Karawanserei steht also noch ;)
Eugen (Donnerstag, 21 Mai 2015 17:55)
liebe Minxin, lieber Florian
Super Eure Berichte !! Vielen Dank für die Karte aus Istanbul. Viel Glück und Spaß weiterhin, wir bleiben dran
Eugen & Ully
Ekki (Samstag, 23 Mai 2015 17:32)
Vielen Dank für Euren Anruf! Hat uns sehr gefreut!
Weiterhin alles Gute, warten gespannt auf den nächsten Reisebericht!
Liebe Grüße auch von Angelika und Ninja
Stephan (Freitag, 29 Mai 2015 22:27)
Hi Ihr, ich geb zu, dass ich erst seit Bosporus wirklich dabei bin, aber seitdem Wort für Wort. Jedesmal will ich eigentlich nur schnell überfliegen und bin eigentlich zu faul, das alles zu lesen, doch einmal eingeklinkt lassen mich diese Schreibe und die geilen Fotos nicht mehr vom Haken, bis ich ganz unten angekommen bin, um verzweifelt nach dem Weiter-weiter-Button zu suchen, weil ich mehr von dem Stoff brauche ... also, bitte regelmäßig weiter liefern, sonst bekomm ich hier verdammt schlechte Laune!!!!
Euch nur gute Laune, auch bei Gegenwind, und auch sonst alles Gute und Schöne weiterhin. Ich meld mich wieder, wenn der Post von der Pik-Lenin-Fahrrad-Erstbesteigung online ist :-)
Dieter Widmann (Donnerstag, 07 Januar 2016)
Hallo, bin gerade in Indochina mit dem Rad unterwegs und habe gedacht, so von der Haustuer weg mal nach Asien zu fahren waere auch mal was. Bin auf eure Homepage gestossen und werde mir alle Berichte Stueck fuer Stueck durchlesen. Kompliment fuer den super Schreibstil und Eure Leistung- fahradtechnisch und auch zwischenmenschlich. Radfahren verbindet die Welt!!!
Gruss Dieter