Der nächste Teil unserer Reise ist der bislang abwechslungsreichste, und das aus mehreren Gründen. Einerseits legen wir mit unterschiedlichsten Verkehrsmitteln die bislang längste Strecke zurück. Andererseits lernen wir China, unser letztes Reiseland in all seinen Facetten kennen und durchleben in den ersten zwei Wochen eine (fast schon erwartete) emotionale Achterbahnfahrt von haltloser Ekstase zu purem Hass. Eine Geschichte, die nach verhaltenem Start in Kirgistan auf chinesischer Seite immer mehr aufdreht und sich zeitweise geradezu wahnwitzigen Dimensionen nähert
Wir wollen unsere Leserschaft nach dem missglückten Teaser („Wie geht es weiter? Keiner weiß es, wir auch nicht“ – kein Schwein hat darauf reagiert) nicht allzu sehr auf die Folter zu spannen. Fahrradfahren ist für uns nach wie vor ein Thema, nach dem Pamir Highway ist für uns aber erstmal ausspannen angesagt.
Während unseres Aufenthalts in Osch treffen wir Anselm und Mirco wieder und beide wissen Ähnliches zu berichten. Anselm entschließt sich, die strapaziöse Etappe in die kirgisische Hauptstadt Bischkek mit dem Bus zurückzulegen. Mirko kündigt eine längere Pause vom Fahrradfahren an, zwei Wochen später sendet er uns eine Mail von einem Strand in der Nähe Bangkoks. Urlaub vom Urlaub. Ähnliches steht auch uns bevor. Unser ursprünglicher Plan sah vor, über den Songkul-See und den Torugart Pass nach China zu radeln. Doch bis wir die chinesische Grenze erreichen, sind auf einsamen, nicht asphaltierten Straßen zahlreiche Pässe zu überwinden. Die endgültige Planänderung erwächst jedoch aus bürokratischen Hürden. Ausländer benötigen eine besondere Erlaubnis zum Überqueren des Torugart Passes und dürfen die Grenze nicht mit dem Fahrrad überqueren. Für den Transport über die Grenze fallen meist so etwa 200 US-Dollar an. Wochenlange Quälerei, um nachher das Portemonnaie zu leeren und für das nicht gerade kleine China weniger Zeit zu haben? Buh.
Bleibt also nur der Weg zurück nach Sary Tash und von dort weiter nach Irkeshtam an die chinesische Grenze. Kirgistan so halbherzig abzuhaken, gerade in Hinblick auf Minxins (am Anfang schwierige) Visaerteilung, ist natürlich irgendwie auch doof. Am Ende mündet die Kombination aus Erholungsbedürfnis, bürokratischen Hürden und hohen Preisen in einem Kompromiss. Bevor wir nach Sary Tash zurückfahren, wollen wir einen Abstecher in die Berge um Osch wagen, wo es Wasserfälle und den größten Walnusswald der Welt geben soll.
Zeitverteib in Osch: chinesisches Abendessen mit Anselm (o.l.); wer ein Visum braucht, muß sich bei der Polizei auch registrieren lassen (o.r.), das Ergebnis langwieriger Preisverhandlungen, um den Transport nach Arslanbob klarzumachen (m.m.), willlkommene Abkühlung im Hotel Osh Nuru (u.l.), Blick auf Osch (u.r.)
Klingt interessant, ist aber nicht einfach zu erreichen. Zwar führt eine gut ausgebaute Straße direkt von Osch in die Berge nach Arslanbob, doch durchquert diese usbekisches Gebiet und genau hinter diesem Umstand verbirgt sich ein großes Problem für Zentralasien. Die Grenzziehung zwischen den Staaten geht auf die stalinistische Zeit zurück. Gemäß der Logik „Teile und Herrsche“, zog der Sowjetdiktator die Grenzen der Sowjetrepubliken quer durch ethnisch einheitliche Gebiete, um mögliche Autonomiebestrebungen im Keim zu ersticken. Diese chaotische Grenzziehung mit ihren zahlreichen Enklaven wirkt bis heute nach. Im dichtbesiedelten Ferganatal lebt heute ein Viertel der usbekischen Bevölkerung, zu erreichen ist es von Taschkent aus indes lediglich über eine enge 2200 Meter hohe Passstraße, wohingegen die Verkehrswege nach Kirgistan gut ausgebaut sind. Osch selbst ist wiederum eine usbekische Stadt, die sich zufällig nach Kirgistan verirrt hat. Trotz ethnischer Durchmischung sind 40% der Stadtbevölkerung usbekischer Herkunft. Das Ferganatal ist von hohen Bergen umgeben, welche die Stadt vom Rest Kirgistans abriegeln. Erst seit 2003 besteht überhaupt eine asphaltierte Straßenverbindung in die Hauptstadt Bischkek, das Gebiet um Osch gilt bis heute als wirtschaftlich abgehängt. Nicht selten münden solche wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Konflikte und auch in Osch ist es nicht anders. 2010 verschreckten ethnisch motivierte Konflikte mögliche Urlauber. Seitdem ist es zwar ruhig, doch noch immer scheint eine für den Reisenden eine unsichtbare Trennlinie durch die Stadt zu verlaufen. Das bestätigen uns zumindest Taxifahrer und Guesthousebesitzer.
Für uns bedeutet der Weg nach Arslanbob also einen Umweg über die Stadt Jalalabad. In Arslanbob mieten wir uns in einem gemütlichen Homestay ein und laufen zu den beiden im Reiseführer erwähnten Wasserfällen. Aus dem Besuch der Walnusswälder wird nichts, da wir uns mehrfach verlaufen. Gemäß des Mottos „Kennt man einen, kennt man alle“, belassen wir es beim Fotografieren eines einzelnen Baums.
Ringen ist im Nomadenland Kirgistan ähnlich wie in der Mongolei Nationalsport. Für westliche Besucher ist der Besuch einer solchen Veranstaltung gewöhnungsbedürftig. Meistens stehen die Ringerpaare in der Arena ineinander verkeilt für Minuten regungslos auf der Stelle, bis ein Schiedsrichter herbeieilt und wahllos ein paar Klatscher auf den Hintern verteilt. Oft geht dann alles sehr fix und in Sekundenschnelle landet ein Ringer auf dem Boden. Uns reißt diese Sportart jedenfalls nicht vom Hocker, doch wer vier Jahre Dauerkarte St. Pauli in der Regionalliga ohne depressive Verstimmung ertragen hat, kann auch locker eine Stunde kirgisischen Ringwettkampf überleben. Anders die Kirgisen, die jede Bewegung der Ringkämpfer mit frenentischem Jubel quittieren.
Kirgisen mögen Ringkämpfe (oben); nette Frauen schenkten uns Popcorn (m.l.); Teenager beim Discobesuch
(u.l.)
Auch abseits der gut besetzten Ringerarena herrscht ausgelassene Volksfeststimmung. Kleine Verkaufsstände bieten billige Souvenirs „made in China an“. Nebenan warten Joghurtbällchen, Zuckerstangen und kirgisisches Eis auf hungrige Käufer. In den Kantinen speisen Soldaten und Polizisten mit usbekischen Großfamilien Seite an Seite Plow und Laghman. Auch Billardtische und Dartscheiben stehen bereit und bieten ungefährlicheren Zeitvertreib als das Schwimmen im Pool. Dieser wurde wohl bereits in der Breschnew-Ära eingeweiht und seitdem nicht mehr gesäubert.
Farbenfroh der Anblick der Besucher. Die älteren Herrschaften führen ihre traditionelle Tracht aus und starren empört auf die Tanzhalle, wo ohrenbetäubender russischer Pop aus den Boxen tönt. Männliche Teenager ringen mit Jeans und Baseballkappen um die Gunst der Make-up und Minirock tragenden Frauen. Im islamischen Kirgistan für die ältere Generation ein provozierender Anblick.
Der Besuch eines Volksfestes ist eigentlich eine untypische Art, Urlaub in Kirgistan zu machen, denn interessanterweise zieht es die meisten Touristen genau dorthin wo es keine Menschen gibt: an einsame Bergseen, auf weite Hochebenen oder in die Welt des ewigen Eises, auf die Berggipfel der 7000er. Dabei erleben wir die Kirgisen bzw. Usbeken als durchaus freundliche Leute, vor denen man nicht davonrennen müsste. Eine Gruppe von Frauen schenkt uns am Nachmittag eine Tüte Popcorn, ein Autofahrer bringt uns gratis zu unserem Homestay zurück
Viel mehr gibt es zu unserer restlichen Zeit in Arslanbob und Osch nicht zu sagen. Wie auch, wenn wir tagelang nur die Hauptstraße ablaufen, eine SIM Karte kaufen oder uns im Optimalfall mal durchringen können, einen lokalen Basar zu besuchen. Nach unserer Rückkehr in Osch schlüpfen wir in die Rolle eines sowjetischen Arbeiterhelden und beziehen wir für umgerechnet 15 Dollar ein unrenoviertes Zimmer im Osh Nuru-Hotel, einem Betonkasten aus den 70er Jahren. Die selbstverständlich längst auf Hochglanz polierte Luxus Suite für 300 Dollar überlassen wir dagegen der gehobenen kirgisischen Geschäftswelt. Doch obwohl wir uns in der Nomenklatura ganz unten einsortieren, steht auch der Plebs die Benutzung des Pools (welch unglaublicher Luxus!) oder der Hotelbar offen.
Wiedersehen mit Franci und Linda kurz vor Sary Tash (r.)
Den Weg nach Sary Tash legen wir im Taxi zurück. Es ist das erste Mal, dass wir denselben Weg zurückfahren und in einen bestimmten Ort zurückkehren. Die Besitzerin des Homestays erkennt uns wieder und freut uns zu sehen.
Noch 80km bis zur chinesischen Grenze. Der Wind bläst von hinten und wir radeln unermüdlich nach Osten, während rechts der Straße eine Kolonne von schneebedeckten 6000ern vorbeizieht. Das Aray Tal präsentiert sich ähnlich imposant wie bei unserem Besuch vor zwei Wochen.
Morgen bereits in China! Was für eine unglaubliche Vorstellung. Irgendwie fehlt uns noch eine emotionale Verbindung zum Reich der Mitte, denn mit China hat die kirgisische Kultur wenig zu tun. In Nura, dem letzten Dorf Zentralasiens fragt uns die Ladenbesitzerin am Abend nach unserer Herkunft. „China“ antwortet Minxin und deutet auf die Gegend hinter dem Hügel. Erst jetzt wird uns bewusst, dass wir fast unser Ziel erreicht haben und es erfüllt uns mit Stolz. Wir zelten ein paar km hinter Nura in Sichtweite des kirgisischen Grenzpostens und freuen uns auf den morgigen Tag.
CHINA
(Der folgende Absatz zu China stammt aus dem Jahr 2015, und entspricht nicht mehr der aktuellen Meinung des Autors, März 2022/ Anmerkung des Autors). Ähnlich wie der Iran hat China in der westlichen Welt ein unverkennbares Imageproblem. Meistens reduziert sich das Bild dieses riesigen Landes auf die Themen Umweltverschmutzung, Kontrolle, Kopien, Tibet, Menschenrechtsverletzungen. Journalisten speisen dieses Image aus zweiwöchigen Kurzaufenthalten im Lande, um sich dann zum Chinaexperten zu ernennen. Natürlich besitzen alle diese Themen ihre Relevanz und Richtigkeit, geben aber nur ein unvollständiges und verzerrtes Bild wieder. Stichwort Umweltverschmutzung: die Regierung nimmt dieses Thema sehr ernst und setzt im Energiemix auch auf regenerative Energien – diese alleine werden jedoch nicht ausreichen, den immens steigenden Energiebedarf dieses riesigen Landes zu decken. Stichwort Kontrolle – wenn man in diesem Land gelebt hat, mag man dieses Thema als gar nicht so relevant empfinden. Die Autoritäten in China haben eine panische Angst vor Volksaufständen. Die Kulturrevolution hat das ganze Land in seinen Grundfesten erschüttert und sitzt den Menschen heute noch in den Knochen. Nie wieder Chaos, und schon gar nicht in einem Land von 1,3 Milliarden Menschen, sondern eine staatlich gelenkte harmonische gesellschaftliche Entwicklung, die Wohlstand für alle einschließt - so lässt sich die Strategie der Führung vielleicht am besten zusammenfassen.
Ich möchte nicht zu weit ausschweifen oder aus diesem Blog ein Politikum machen. Es gibt Sachen in China, die mich genauso stören. Bevor man mit dem Finger auf dieses Land zeigt, sollte man es aber erstmal besuchen oder zumindest versuchen, die Hintergründe zu verstehen. Als Deutschem sind mir in drei Jahren China die Menschen niemals feindselig begegnet, leidglich in einigen Fällen äußerte man sich enttäuscht über das negative Image des Landes in der westlichen Welt.
unerlaubtes Abschiedsfoto von Zentralasien am kirgisischen Grenzposten (o.l.); endlich zuhause! (o.r.); nochmal unerlaubt:
chinesische Einreiseprozedur (u.r.)
Die Reisenden, die wir trafen, zeichneten ein unterschiedliches Bild von China. Einige deklarierten es zum Lieblingsland, viele beklagen die extreme hohe Sprach- und Kommunikationsbarriere. Selbst Zeichensprache führt oft nicht zum gewünschten Ziel, und so kann man ohne Kenntnis der chinesischen Sprache bereits die Abfertigung an der Grenze als bevormundend und schikanös empfinden. Zunächst geht es über eine steile Serpentine zum Grenzposten, wo wir ein paar Erinnerungsfotos schießen. „Endlich zuhause!“, jubiliert Minxin auf Mandarin und eine Menschentraube von Han-Chinesen applaudiert dazu eifrig. Minxin hat ihre Heimat seit drei Jahren nicht mehr gesehen.
Dann ist aber bereits Schluss mit lustig. 2km später eine monumentale Grenzstation, davor ein Offizier postiert, die Szene beherrschend. „Stop! Passport! No photo!“, lauten seine unmissverständlichen Anweisungen. Vor wenigen Minuten haben wir von den kirgisischen Grenzbeamten noch Tee angeboten bekommen und mit ihnen eine Fotosession veranstaltet. Letztendlich ist aber auch auf chinesischer Seite alles halb so dramatisch. Den Beamten werden gewisse Regeln eingeimpft, ihr englischer Wortschatz beschränkt sich meist auf wenige Schlüsselwörter, die sie oft autoritär und emotionslos wirken lassen. Dieser Beamte entschuldigt sich bei uns und bietet uns an, ein Taxi zu suchen, das uns inklusive Fahrräder in das 120km entfernte Uluchat transportiert. Die Strecke bis dorthin ist nämlich für Ausländer gesperrt und kann nur mit chinesischer Begleitung bereist werden.
manchmal sind es nur Details, die sofort an China erinnern: sei es das Straßenpflaster, das Zhiaocaijinbao oder das in Plastik
eingepackte Geschirr (v.l.n.r.)
So absolvieren wir die ersten km auf chinesischem Boden zu fünft gezwungenermaßen in einem Taxi. Doch selbst der für Radfahrer eigentlich sehr frustrierende Gedanke, dass wir uns geographisch betrachtet, immer noch näher an Damaskus oder Jerusalem befinden als an Shanghai, kann kaum unsere Stimmung trüben. Denn ungeachtet der geographischen Distanz reiht sich auch hier am anderen Ende des Riesenreichs ein déjà vu an das andere. Das Trottoir! Richtig: genau, dasselbe wie in Schanghaier Fußgängerzonen. Die Badezimmerarchitektur! Weiße Fließen und blau getönte Fensterscheiben – mit diesen Zutaten hat man in den 90er Jahren mit erstaunlichem Erfolg versucht, das gesamte Land zu verschandeln. Man sieht diese gefliesten Gebäude noch heute überall in China, sowohl hier im äußersten Westen wie auch in den etwas ärmeren Vororten Schanghais.
Die Straße führt bergab durch ein Canyon an bizarren Felsformationen vorbei. Schade, bestimmt eine prima Strecke für Fahrradfahrer. Kurz vor Uluchab dann die zweite Grenzkontrolle zwischen China und der USA. Möge man zumindest meinen, wenn man nach den gigantomanischen Ausmaßen der Grenzstation geht. Im Internet kursieren Gerüchte von unbarmherzigen Grenzbeamten, die harmlose Fahrradtouristen aufforderten, die Schläuche und Mäntel ihres Fahrrads zu öffnen. Uns hingegen stellt man lediglich ein paar Fragen, ob man Fleisch- oder Milchprodukte mitführt, später muss noch unser Gepäck in den Scanner, dann ist es bereits vorbei. Wir fanden die Ein- und Ausreiseprozeduren im Iran sowie in Usbekistan und Turkmenistan wesentlich aufwändiger.
Uluchab, der erste nennenswerte Ort hinter der Grenze, erscheint trotz seiner abgeschiedenen Lage wie eine Millionenstadt auf uns. Der wirtschaftliche Aufschwung Chinas hat sich offenbar mittlerweile auch in den hintersten Winkel Chinas verirrt, wie breite Straßen und pompöse Neubauten bezeugen. Natürlich mag dieses chinesische Einerlei dem westlichen Besucher zunächst etwas gesichtslos und steril erscheinen, auf mich hingegen wirkt solch eine typische Provinzstadt nach drei Jahren Leben in China merkwürdig vertraut. Wir bezahlen etwa 10 Dollar für ein bequemes Hotel mit dreckigem Bad. Doch selbst 100 Kakerlaken können nicht irren: endlich haben wir mal wieder eine gescheite Internetverbindung und im Restaurant nebenan werden wir mit bestem Sichuan Essen verwöhnt. Noch gestern haben wir auf 3000 Metern im Sturm mit dem Campingkocher herumhantiert, nur 24 Stunden später und 120km Luftlinie entfernt speisen wir wie die Fürsten – einfach nur geil.
erste Eindrücke von China: geleckter Asphalt in Uluchab; jede Menge E-Bikes; Reste der Altstadt; endlich wieder gutes Essen; lange
Hotelkorridore; Bambusköcher
Unsere nächste Station ist Kaschgar, ein uralter Knotenpunkt entlang der Seidenstraße. Bereits vor über 2000 Jahren hielten hier aus Zentralasien, Pakistan und China kommende Karawanen. Lange Zeit war die Zugehörigkeit des Gebiets umstritten, erst seit 1949 ist die Stadt fester Bestandteil der VR China. Noch heute leben hier hauptsächlich Uighuren, mit dem Bau von Eisenbahnen und Autobahnen gelangen jedoch immer mehr Han-Chinesen in diese einstmals abgelegene Provinz. Seit 1999 ist die Stadt an das chinesische Eisenbahnnetz angeschlossen.
Und so laufen auf unserer 90km langen Strecke Richtung Kaschgar zwei Filme gleichzeitig ab. Wir passieren archaisch wirkende Dörfer, bestehend aus Lehmhütten, die sich hinter Moscheen ducken. Die Autobahn samt Tankstellen, Mautstationen und Verkehrsschilder sind aber eindeutig chinesischer Herkunft. An einer Mautstation 30km vor Kaschgar ist schließlich Schluss. Ein Uighure bedeutet uns auf Chinesisch, die Autobahn zu verlassen. Wieder so eine Situation, die viele Touristen an den Rand des Wahnsinns bringen dürfte. Dank unserer Chinesischkenntnisse erfahren wir, dass sich nur eine km entfernt eine gut ausgebaute Bundesstraße befinden soll.
leere Autobahnen im westlichsten Zipfel Chinas (o.l.); freundliche Uighuren (o.r.); Einfahrt nach Kaschgar
(u.r.)
Kaum sind wir von der Autobahn runter, läuft nur noch der uighurische Film weiter. Eine Familie lädt uns auf einen Tee ein. Chinesen in den fernen und reichen Küstenstädten lernen von klein auf, dass Xinjiang ein gefährliches Pflaster ist, bewohnt von armen Uighuren, die nur auf die erste Gelegenheit warten, unliebsamen Han Chinesen einen Messer in den Rücken zu rammen. Davon merken wir erstmal nichts, die Leute sind von ausgesprochener Freundlichkeit, statt einer Schnittwunde wird uns eine Bleibe für die Nacht angeboten.
Doch wir wollen weiter nach Kaschgar. Die Überlandstraße tarnt sich als Pappelallee, die stetig bergab an kleinen Dörfern und lebhaften Märkten vorbeiführt. Niemand auf der Straße spricht Mandarin, am Straßenrand trocknen Safran und Chilischoten, aus den Garküchen weht der Duft von gebratenem Kebab herüber, während der Muezzin zum Gebet ruft. Eine Szenerie wie in Zentralasien. Wir schaffen über 30km/h im Schnitt und können somit mühelos mit den Elektroscootern mithalten, die mittlerweile das Fahrrad als Transportmittel fast komplett abgelöst haben.
endlich eine richtige Metropole, die trotz architektonischem Wildwuchs ihre Vergangenheit nicht leugnet:
Kaschgar
Das ist bitter notwendig, denn in Kaschgar angekommen, dauert es etwa 3 Stunden, bis wir endlich mit tatkräftiger Unterstützung der lokalen Bevölkerung das unscheinbare Guesthouse entdecken. Als wir entnervt unsere Fahrräder durch das massive Eingangsportal schieben, hellen sich unsere Mienen sofort wieder auf. Im Innenhof sitzt Thorsten, der uns bereits zwischen Buchara und Khorog mehrfach begegnet ist. Mittlerweile konnten wir mit fast sämtlichen Mitgliedern unserer legendären Duschanbe/Samarkand Radlercrew ein Revival feiern.
Etwas überrascht stellen wir fest, dass sich die restlichen Hostelgäste zu 80% aus Han-Chinesen zusammensetzen. Offensichtlich ist der Rucksacktourismus auch für Chinesen mittlerweile attraktiv geworden. Im Schanghaier Büroalltag begegnete mir eher die verwöhnte, in den 80er Jahren geborene Generation von verwöhnten Einzelkindern, die erstmals Wohlstand von Kindesbeinen an erleben durfte. Die Anfang der 90er Jahre geborenen Chinesen vermitteln zumindest hier in Kaschgar ein ganz anderes Bild. Qilin aus Chengdu ist beispielsweise mit 21 Jahren schon mit ihrem Studium fertig, möchte aber erstmal lieber um die Welt reisen, anstatt sich einen Job zu suchen. Lingbing hat Ähnliches vor. Xiaohei ist seit zwei Monaten unterwegs und war mit dem Rad im Winter in Tibet.
Sehr prägend auch die Auftritte des Pekinger Männersextetts, einer raubeinigen lauten Gruppe von Männern Mitte 20, das während unsere sechstägigen Aufenthalts im Hostel kein einziges Mal seinen Tisch zu verlassen scheint, dafür die Alkoholvorräte des Hostels in beeindruckender Geschwindig- bzw. Regelmäßigkeit vernichtet. In China trinkt man den Alkohol aus winzigen 0,05 Liter Gläsern und stößt dabei ein heiseres „Gan Bei“ aus, was übersetzt so viel wie „Trockenes Glas“ bedeutet und knallt selbiges danach auf den Tisch. So stellt das Pekinger Männersextett eindrucksvoll seine Männlichkeit unter Beweis, auch wenn sich in den Schnapsgläsern nur Bier mit 2% Alkoholgehalt befindet. Nach drei Tagen ist der Tisch komplett mit Bierflaschen überzogen, sodass man dazu übergeht, die Bierflaschen zur Pyramide zu stapeln.
Das sind sehr ungewöhnliche Lebensmodelle. Junge Chinesen stehen oft unter enormen Erwartungsdruck der Eltern, was nicht überrascht, da das Kind oft das einzige ist und nicht selten später die karge Rente der Eltern aufbessern muss. Dies setzt einen attraktiv bezahlten Job voraus, der wiederum den Besuch einer teuren Privatuni erfordert. Doch, wer weiß, vielleicht steckt in dem Sprössling ja auch ein zweiter Mozart…? Gefühlt jedes zweite Kind in China muss sich mit Geigen- und Klavierunterricht herumschlagen. Dass zu all dem ein grundsolider Lebenswandel mit ebenso attraktiv-unbedenklichen Ehepartner und der Erwerb einer luxuriösen Eigentumswohnung dazu gehören, versteht sich von selbst.
Zusammen mit Minxins chinesischer Mädchencrew, Thorsten und Henk, einem holländischen Radlerkollegen, plündern wir den allabendlich stattfindenden Nachtmarkt von Kaschgar. Thorsten zeigt sich kulinarisch abenteuerlustig und schwört auf Schafshoden, Minxin entscheidet sich für Nudelsuppe, während ich überrascht feststelle, dass die gezuckerten Pfannkuchen mit Hackfleisch gefüllt sind. Immerhin noch bekömmlicher als die Ochsenfüße am Stand gegenüber.
Ochsenfuß und Schafshoden: der Nachtmarkt von Kaschgar; auch Nudeln mit Kichererbsen und Bambussprossen (o.r.) und Tofu in
Chilibrühe (u.l.) werden angeboten
Trotz ihres Status als Touristenattraktion ist Kaschgar keine einfache Stadt. Immer wieder gerät sie durch sporadisch aufflackernde Unruhen in die Medien. Noch vor wenigen Jahren dominierten bröckelnde Lehmfassaden und Minarette die Stadtsilhouette. Heute wird die Altstadt von den Hochhäusern und breiten Boulevards der Han Chinesen – Stadt eingeschnürt, die wie eine Krake ihre Tentakel immer weiter ins Umland ausstreckt und auch vor den engen Altstadtgassen nicht Halt macht.
Nicht ganz auffällig ist die Mao-Statue an der Hauptausfallstraße einer größten in ganz China. Sie wurde – ebenso wenig überraschend - während der Kulturrevolution errichtet.
So stellt man sich China vor: Mao Statuen, Überwachungskameras und Soldaten auf der Straße plus jede Menge
Verbotsschilder
Dabei haben die Chinesen aus ihren Fehlern gelernt und bauen die planierten Flächen mit täuschend echter zentralasiatischer Architektur wieder auf. Auch unser Guesthouse wirkt wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht, ist aber vor gerade einmal vor zehn Jahren erbaut worden. Somit gibt es in Kaschgar heute eine alte „Original“-Restaltstadt, eine mittlere Altstadt und eine neue Altstadt. Wie viele Sachen hat auch diese Disneyland Architektur zwei Seiten. Einerseits schön, dass man sich besonnen hat und von der Badezimmerfliesenarchitektur der 90er Jahre abgerückt ist. Andererseits sind diese neuen Altstädte sicherlich kein Anwärter auf ein UNESCO Welterbe. Die meisten Bewohner der Altstadt siedeln ohnehin in die komfortablen Appartmentblocks der Neustadt über, wo sie sich mit Han Chinesen langsam vermischen - social engineering mit der Abbruchbirne
Auch das Internet ist eine einzige Qual, entweder laden die Seiten im Zeitlupentempo oder sind sowieso gesperrt. Für den geplanten Tagesausflug zum Mustagh Ata-Berg brauchen wir eine Genehmigung. Zusammen mit ein paar anderen Chinesinnen fahren wir mit einer motorisierten Rikscha an den Stadtrand, rennen dort eine Stunde mehrfach im Kreis, bis wir endlich vor einem Amtsgebäude stehen. Dort erfahren, dass das Ausstellen der Genehmigung zwar kein Hindernis darstellt, Minxin am Kontrollposten aber ein Personalausweis vorzeigen müsste. Wir führen jedoch nur unsere Reisepässe mit, Minxins Personalausweis staubt in irgendeiner Schublade in der Wohnung ihrer Eltern vor sich herum. Ich werfe Minxin einen gequälten Blick zu: „Hast du überhaupt noch Lust?“ „Eigentlich nicht. Wir hatten doch genug Berge.“ „Ja, warum tun wir uns das eigentlich an. Scheiss Berge, scheiss Ausflug.“ „Du wolltest doch dahin. Das war deine Idee.“ „Ja. Ich merke allerdings gerade, dass ich überhaupt kein Bock darauf gehabt habe. Alles zu kompliziert.´“
Wir verzichten also auf den Ausflug und können gut damit leben. Wir können auch gut damit leben, dass es etwa 2 Stunden dauert, bis sich in meinem Smartphone eine funktionierende SIM Karte befindet. Thorsten benötigt hierfür immerhin volle drei Tage.
E-Scooters am großen Basar (o.l.); leider zu klein für mich: Prosche T-Shirt mit Adidas Logo (m.l.)
Am dritten Tag ziehen dann aber dann doch die ersten Wolken am zuvor blauen Himmel Kaschgars auf. Wir möchten uns die Taklamakan-Wüste sparen und mit dem Zug nach Xining fahren. Dafür brauchen wir aber ein Zugticket und das will erstmal besorgt sein. Am Bahnhof angekommen, teilt man uns mit, dass für die nächsten zwei Wochen kein Ticket erhältlich ist.
Zeit für Plan B. Am Busbahnhof nebenan werden Tickets nur für den jeweils nächsten Tag herausgegeben. Für den morgigen Tag sind natürlich alle vergriffen, also nutzen wir den Besuch zur Durchführung einer Machbarkeitsanalyse. Denn einfach mit den Fahrrädern zum Bahnhof fahren und diese in den Kofferraum legen, das geht vielleicht in der Türkei, nicht aber in China. Immerhin zeigt die Studie ein positives Ergebnis: ja, es ist genügend Platz für unsere Fahrräder. Fehlen also nur noch die Tickets und die sollten wir morgen an Ort und Stelle kaufen, und zwar möglichst früh.
„Früh“ heißt in Xinjiang nicht viel. Wie für ganz China gilt auch in Kaschgar „Beijing Time“, was dazu führt, dass es jetzt Anfang September um 8 Uhr Morgens noch stockdunkel ist und erst um 22 Uhr die Sonne untergeht. Dementsprechend ist auch der Lebenswandel der Menschen: 9 Uhr aufstehen, 15 Uhr Lunch, 21 Uhr Abendessen, nachts um eins oder zwei ins Bett. Im Hostel werden wir freundlich gebeten, die Nachtruhe einzuhalten, die bis 8:30 Uhr dauert.
Der Busbahnhof steht zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor einer Massenpanik. Abertausende von Wartenden belagern die Eingangstore, die sich partout nicht öffnen wollen. Immer wieder schubsen und schieben Neuankömmlinge die Menge nach vorne. Das anfängliche Gelächter weicht wüsten Beschimpfungen, die Stimmung scheint zu eskalieren. Doch urplötzlich stiebt der wogende Pulk von Menschen auseinander und rennt um sein Leben. Offensichtlich hat man eine Tür am anderen Ende des Bahnhofs geöffnet, damit der öffnende Beamte nicht von den potentiellen Ticketkäufern niedergetrampelt wird. Jetzt gilts: Minxin und ich schließen uns der rennenden Horde an und hetzen zum Nebeneingang. Wir finden unseren Platz in der Schlange relativ weit hinten, etwa 30 Meter vom Ticketschalter entfernt. Dort stehen wir nun und hoffen darauf, dass am Ende noch ein Platz im Bus für uns (und unsere Fahrräder) übrig bleibt. In den ersten 60 Minuten bewegt sich die Schlange ungefähr 50cm nach vorne. Ich beschließe, uns beiden eine Cola zu kaufen und nutze die Wartezeit am Imbiss, um gedanklich die gegenwärtige Situation zu sortieren. Okay, im gegenwärtigen Tempo dürften wir nach 60 Stunden Wartezeit ein Ticket ergattern. Bezieht man die Öffnungszeiten des Bahnhofs in die Rechnung mit ein, wären wir wohl Samstagvormittag dran. Heute ist Dienstag. Um Schlafgelegenheiten mache ich mir keine Sorgen, es ist genug Platz in diesem Monumentalbau, doch was ist mit dem Essen? Es gibt nur einen kleinen Imbiss und somit ist es fraglich, ob die Lebensmittelvorräte bis zum Wochenende ausreichen. Verhungern wäre nicht so toll. Bleibt nur zu hoffen, dass die Kebabstände vom Vorplatz in die Bahnhofshalle verlegt werden.
Stationen eines Leidenswegs: Warteschlange im Busbahnhof; eingepackte Fahrräder; auf dem Weg zum Flughafen noch schnell unsere
Hostel-Kollegen verabschieden
„Wir haben ein Ticket! Echt jetzt!“, ruft Minxin mir auf Deutsch aus der Schlange zu. Eine gewagte These, schließlich hat sich Minxin in den letzten 20 Minuten um ca. 30cm nach vorne bewegt, und das nur, weil einige der Wartenden vor ihr entnervt die Schlange verlassen haben. „Ich habe gerade mit einem Sicherheitsbediensteten geredet. Er erinnert sich noch an uns und hat zwei Tickets zurückgelegt, die können wir um 14 Uhr abholen.“
Das wäre zu schön, doch in China muß man bei solchen Versprechen vorsichtig sein. Vier Stunden später stehen wir wieder vor dem Schalter und sehen unsere Zweifel bestätigt. „Tut mir leid, alles ausverkauft. Eine Gruppe von Studenten hat sich die Tickets gesichert“, ist alles, was man uns sagen kann. Und: „Kommt morgen wieder“.
Das lassen wir nach den heutigen Erfahrungen besser sein und gehen dafür Plan C an: Fahrradfahren und Trampen. Es dürfte 4-5 Tage dauern, bis wir auf diese Art und Weise Urumchi erreicht haben. Von dort aus wollen wir es nochmal mit öffentlichen Transportmitteln probieren. Wir verabschieden uns von unseren Hostel-Bekanntschaften und lassen Kaschgar mit gemischten Gefühlen hinter uns. Nach 20km halten wir an einer Tankstelle und sprechen ein paar Trucker an. Die ersten Befragungen enden ernüchternd – die meisten Fahrer sind Uighuren und fürchten Polizeikontrollen. Angeblich darf man keine Ausländer in einem Lkw transportieren, zumindest nicht auf dieser Strecke. Zwei Stunden bzw. 30 Blitzbefragungen später geben wir entnervt auf. Plan C ist also auch gescheitert.
Ach, China! Ich mag dich immer noch, auch jetzt noch, aber irgendwann reicht es dann auch mal. Wenn man eine Stadt tage- oder wochenlang nicht verlassen kann, weil nicht genügend Zug- und Busverbindungen bestehen, kann irgendetwas nicht stimmen.
Warum ändert man nichts an dieser Situation? Warum setzt man keine Sonderzüge ein? Oder hängt drei Wagons zusätzlich an die Lok? Oder setzt auf Sammeltaxis und Kleinbusse?
Was den Leuten in diesem Land komplett abgeht, ist die Fähigkeit Probleme zu lösen. Entsteht ein Problem, akzeptiert oder kultiviert man es. „Mei You“, zwei Wörter, die jeder Tourist nach wenigen Tagen kennt. Wörtlich übersetzt bedeutet „Mei You“ soviel wie „Gibt es nicht“, es kann aber genausogut „Kein Bock, mich drum zu kümmern“ heißen. In allen bisher bereisten Ländern, auch bzw. gerade wesentlich ärmeren, war man stets bemüht eine adäquate zu Lösung. Da es in Usbekistan keine Kleintransporter gibt, hat man kurzerhand einen Dachgepäckträger auf einen Daewoo Nexia Stufenheck Pkw montiert, um darauf unsere Fahrräder zu befestigen.
Hinzu kommt ein unüberschaubares Regelwerk, das niemand versteht und keinem was bringt. Warum ist Minxins Reisepass wertlos? Warum darf man nicht per Anhalter nach Urumchi reisen, muss aber genau auf diese Art von Kirgistan nach China einreisen? Warum sind die meisten Hotels für Ausländer gesperrt, obwohl sie meistens noch teurer und besser sind als die für Ausländer zugänglichen?
Sichuan-Essen in Kashgar: das weiß man was man isst (l.); Chinesen haben Ahnung von gutem Essen, nur Kuchen backen können sie
nicht (r.)
Das Positive an diesem Land: die Menschen. Kaum hat Minxin per Smartphone über das Scheitern von Plan C berichtet, schlägt Wuyue vor, ein Flugticket zu buchen. Wir haben uns vor dieser Option bislang gesträubt, weil sie irgendwie nicht zu unserer Reise passt. Aber Fliegen, im Folgenden „Plan D“ genannt, ist immer noch praktikabler als Plan E (zu Fuß die 2200km nach Xining laufen), F (Wohnung und Job in Kaschgar suchen und dort den Lebensabend verbringen), G (den Busbahnhof oder den Busbetreiber aufkaufen) und H (Nervenzusammenbruch, Selbstmord oder eine Kombination aus beiden). Und tatsächlich: nach nur 5 Minuten sind wir in Besitz eines gar nicht mal so teuren Flugtickets nach Urumqi. Der Flug soll übermorgen starten. Als wir wieder im Hostel eintreffen, hat WuYue für uns noch ein billiges Hotelzimmer in Urumchi organisiert. Wow. Fetten Respekt. Die Rechnung für das Abendessen geht heute auf uns.
Jetzt müssen aber noch unsere Fahrräder verladen werden. „Das ist ganz einfach“, flötet unser Guesthousebetreiber und fährt ungerührt fort: „Baut sie auseinander, steckt sie in Kartons. Dann kommt jemand und fährt sie mit euch zum Bahnhof. 5 Tage später sind die in Xining“. Spätestens beim Wort „Bahnhof“ dürften alle Alarmglocken schrillen, doch bleibt uns nichts anderes übrig. Die Kartons erweisen sich als zu klein, sodass wir auch Lowrider und Schutzblech entfernen müssen. Der Abholdienst erscheint mit zwei Stunden Verspätung und erledigt unterwegs noch ein paar andere Aufträge. Am Bahnhof angekommen, möchte man die Fahrräder so nicht akzeptieren. „Baut sie wieder zusammen, sonst verlieren wir noch was. Ach, und beeilt Euch, wir schließen in einer halben Stunde“. Nun bin ich mit meiner Geduld endgültig am Ende. Warum hat man uns das nicht vorher gesagt? Den ganzen Kram auseinander- und wieder zusammenbauen – schönen Dank auch, ihr Penner! Die nächste halbe Stunde bin ich damit beschäftigt, jeglichen Blickkontakt mit Umstehenden zu vermeiden, da ich sonst ausraste.
Urumqi: kein Seidenstraßen-Mythos, sondern eine stinknormale chinesische Großstadt; lediglich der neuaufgebaute Basar erinnert an
die Vegangenheit (mitte)
Immerhin: Plan D erweist sich als problemlos durchführbar. Pünktlich und unversehrt landen wir am nächsten Tag nach zwei Stunden Flugzeit 1500km entfernt in Urumchi. Ohne Fahrräder. Und ohne was von Land und Leuten gesehen zu haben. Gruselig.
In den besten Tagen war Urumchi der wichtigste Stützpunkt auf der Seidenstraße zwischen Baku und Beijing, doch gerade die Rolle als größte Stadt Westchinas sollte sich später als Fluch erweisen. Die Altstadt verschwand in den 90er Jahren, als das vergleichsweise kleine Kaschgar noch nicht auf dem Radar der Städteplaner aufgetaucht war, vollständig unter den Bulldozern der Abräumkommandos. 75% der Bewohner Urumchis sind heute Han-Chinesen, doch in einigen Seitenstraßen entdeckt man noch Kebabstände und verschleierte Frauen.
das älteste Hochhuas Urumchis stammt aus dem Jahr 1991, vor vier Jahren wurde es renoviert (u.l.); Lasagne und Pizza (u.m.):
chinesische Presse: Zuversicht vor dem Gipfeltreffen mit dem US-Präsident, Reportage über Treffen zwischen nord- und südkoreanischen Familien, auch das Thema Flüchtlinge bleibt nicht unerwähnt
(u.r.)
Das stolze, jahrtausendealte Erbe Urumchis ist unwiderruflich im Staub aufgegangen und daher wählen wir für unser eintägiges Besichtigungsprogramm einen ganz radikalen Ansatz: wir suchen nach dem ersten modernen Hochhaus der Stadt. Vor langer Zeit habe ich mal ein Reisebericht aus dem Jahr 1992 gelesen, welcher vom Bau des ersten Hochhauses in Urumchi berichtete. Ich habe das dazugehörige Foto noch vor Augen: ein weißgekachelter Bau mit einem Drehrestaurant vor einem Meer aus niedrigen Lehmbauten. Die Suche erweist sich aus mehreren Gründen als sehr knifflig, da die meisten Bewohner erst kürzlich aus dem Osten Chinas zugereist sind und nicht weiterhelfen können. Darüber hinaus besteht mittlerweile die gesamte Innenstadt aus Hochhäusern und viele sehen dem gesuchten sehr ähnlich. Ich sitze bereits entnervt im Bus Richtung Hotel, als ich direkt neben der Stadtautobahn einen etwas skurrilen Turm mit brandneuer Spiegelglassfassade entdecke. Das muss er sein! Ein Besuch im Inneren des Gebäudes liefert weitere erhellende Fakten. Nach der Fertigstellung im Jahr 1991 beherbergte das Gebäude das damals einzige Viersterne Hotel Westchinas. Zwanzig Jahre wechselte das Haus den Besitzer und erhielt die heutige Fassade. Mittlerweile sind ihm die umstehenden Gebäude neueren Datums über den Kopf gewachsen, bis vor 20 Jahren war es das einzige Hochhaus. Zufrieden verlassen wir die Hotellobby. Wir haben eine Menge über die Stadtgeschichte Urumchis erfahren, und man kann nicht oft genug erwähnen, in welch rasendem Tempo sich Chinas Städte verändert haben.
Das Abendessen verbringen wir unweit entfernt in einem…nun ja, amerikanisch-italienischen Restaurant, das überraschend gute Lasagne serviert und starren nachdenklich auf den sechsspurigen Highway, über den lebhafter Verkehr braust und einen merkwürdigen Nachbau des eigentlich in New York beheimateten Chrysler-Buildings. Wir fühlen uns eher 3000km nach Osten, nach Shanghai, versetzt. Unsere Fahrräder scheinen, nicht nur geographisch, Lichtjahre entfernt.
Morgen geht es nach Xining, zu unseren Fahrrädern.
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Carolin (Dienstag, 22 September 2015 10:10)
Wahnsinn!!! Jetzt seid ihr tatsächlich in China, und (fast) alles selbst gestrampelt... Schade, dass ihr auf das Flugzeug ausweichen musstet, wir sind gespannt ob ihr zu euren Fahrrädern zurück findet...
Kati (Dienstag, 22 September 2015 20:15)
Ihr habt's geschafft!!! Herzlichen Glückwunsch und Grüße aus Berlin! :-)